"Unter Dojczen": Das schmerzhafte Leben einer Altenpflegerin
2022 erhielt Mia Raben ein Recherche-Stipendium der Hamburger Kulturbehörde und des Hamburger Literaturhauses, um nach Łódź zu reisen und für ihr erstes literarisches Werk zu recherchieren. Jetzt erscheint ihr Debütroman "Unter Dojczen".
Es ist ein hartes Leben, für das sich die Mittfünfzigerin Jola entschieden hat. Eigentlich kommt sie aus dem polnischen Łódź. Nur noch selten kehrt sie dorthin zurück. Seit Jahren arbeitet sie als Altenpflegerin in Deutschland. Jeder neue Job beginnt mit der immer gleichen Busfahrt und ähnlichen Sitznachbarn:
Die meisten waren neu, sie pendelten erst seit Kurzem und dachten noch, sie hätten das große Los gezogen. Daneben die alten Hasen, die sich längst daran gewöhnt hatten, vor irgendeiner deutschen Haustür abgeliefert zu werden wie Pakete. Sie selbst war eins davon. Leseprobe
Dieses Mal soll alles anders werden
Mia Raben schaut sich diesen blinden Fleck unserer Gegenwart an und erzählt Jolas Geschichte - stellvertretend für Tausende osteuropäische Frauen, die in Privathaushalten deutsche Senioren betreuen - rund um die Uhr, ohne Pause, 24 Stunden am Tag. Irgendwo in einer legalen Grauzone. Bei früheren Jobs wurde Jola gedemütigt und ausgebeutet. Sie erlebte Rassismus und Klassismus. Die Arbeit ist ihr über die Jahre "in den Körper gekrochen". Dieses Mal soll alles anders werden.
Jola hat einen Vertrag mit anständigem Gehalt, Versicherung und festen Arbeitszeiten. Sie kommt in eine wohlhabende Hamburger Familie, bezieht im Untergeschoss einer Villa ihr eigenes Reich und hat schnell - vielleicht etwas zu schnell, um glaubwürdig zu sein - einen Draht zu ihrer neuen Anvertrauten Uschi:
Sie wusste nach den ersten drei Tagen, dass sie von Frau Uschi keinerlei Schimpftiraden gegen sie als Polin zu erwarten hatte. Das war das Wichtigste. Nein, hier ging es um persönliche Würde. Die Selbstbestimmung einer stolzen Frau, die sich daran gewöhnen musste, auf Hilfe angewiesen zu sein. Leseprobe
Ein Leben voller Entbehrungen und Schmerz
Schnörkellos und angenehm unaufdringlich ist die Sprache von Mia Raben. Manchmal passieren ihr allerdings Ausrutscher ins Kitschige. Da besteht "Liebe aus Taten" oder "Sandkörner sind genauso endlich wie ihre Zeit". Die Autorin scheint noch auf der Suche nach ihrem Ton zu sein. Den sprachlichen Zuckerguss braucht ihre wirklich starke Geschichte nicht.
Wir nehmen die Perspektive der Protagonistin ein, die normalerweise darin geübt ist, unsichtbar und still zu bleiben. Der Roman gibt ihr eine Stimme. Und das ist grundsätzlich wunderbar. Ehrfürchtig wird man vor diesem Leben voller Entbehrungen und Schmerz. Die alleinerziehende Jola, die ihrer Tochter aus der Ferne ein solides Leben finanziert, ist längst vereinsamt. Nirgends kommt sie an.
Man hatte sie gebeten, hierher zu kommen, um zu helfen. Und doch fühlte sie sich wie ein Eindringling in diesem deutschen Haus. Leseprobe
"Unter Dojczen": Ein Roman, der Großes anpackt
Mia Raben - selbst ein Kind polnisch-deutscher Eltern - zeigt ihre Hauptfigur zwischen den Welten, zwischen beiden Kulturen. Das ist stark und aufrichtig. Eine Frau, die sich in Polen zu deutsch und in Deutschland zu polnisch fühlt. Eine, die die großen Karrierepläne ihres schwarz arbeitenden, polnischen Freundes belächelt und gleichzeitig den krampfhaften Perfektionismus deutscher Auftraggeber bedauert. Dem Text merkt man die akribische Recherche unter polnischen Betreuerinnen, den selbsternannten "Betrojerinkis", an. Ihre Anvertrauten nennen sie liebevoll die "Seniorki". Das interkulturelle Spiel setzt sich auch in der Sprache fort.
Ein Roman, der Großes anpackt und dem Stoff - zumindest in weiten Teilen - gerecht wird. Die zwei ungleichen Frauen werden Freunde. Das fulminante, allumfassende Versöhnungsspektakel auf den letzten 50 Buchseiten hätte es allerdings nicht gebraucht.
Unter Dojczen
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kjona
- Bestellnummer:
- 978-3-910372-27-6
- Preis:
- 23 €