Buchcover: Simone Buchholz, "Nach uns der Himmel" © Suhrkamp Nova

Roman "Nach uns der Himmel": Gefangen in einer Zwischenwelt

Stand: 16.10.2024 06:00 Uhr

Der aktuelle Roman der Hamburgerin Simone Buchholz handelt von acht Menschen, die sich nach und nach von der Realität lösen. Die Freiheit, die sie in ihrer Zwischenwelt spüren, überträgt sich und geht auf ganz unkitschige Weise ans Herz.

von Danny Marques Marcalo

Es ist ein ziemlich langweiliger Ferienflug - doch plötzlich gibt es Turbulenzen:

Die Gewalt hebt die Menschen aus ihren Sitzen und drückt sie in ihre Sicherheitsgurte, sie hebelt die Gepäckfächer auf, sie lässt die Koffer und die Taschen fliegen, Arme werden nach oben gerissen, (…) die Herzen verlieren ihre Fassung. Leseprobe

Das Flugzeug landet aber. Die acht Figuren in diesem Roman beginnen ihren Urlaub. Zum Beispiel ein unglücklicher Geschäftsmann oder ein Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat und nur wegen des kranken Kindes noch zusammen ist.

VIDEO: Sie bringt den "Tatort" ins Radio - Die Schriftstellerin Simone Buchholz (5 Min)

Zwischen Realität und Magie

Doch irgendwie ist alles anders. Die Urlauber kommen nicht so recht an, scheint es, sprechen nicht mit den Locals, vergessen, dass sie Telefone haben. Als Leser fragt man sich schon früh: Kann es sein, dass diese Flugzeugturbulenzen doch in einem Absturz geendet sind? Und die Figuren gar nicht lebendig sind, sondern sich in einer Art Totenwelt bewegen?

"Ich würde sagen, es ist ein Limbo, eine Zwischenwelt. Zwischen Realität und Magie, zwischen Dasein und Nicht-Mehr-Dasein", sagt Autorin Simone Buchholz. Sie habe ihrem Schriftstellerfreund Juri Andruchowytsch von einem turbulenten Flug erzählt, den sie selbst mal erlebt habe und er habe gesagt: "Was du nicht weißt, ist, dass das Flugzeug gar nicht gelandet ist. Und alles, was du seitdem erlebt hast, findet nur noch in deiner Fantasie statt." Mit viel Fantasie spinnt Simone Buchholz diese These nun als Roman weiter.

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Collage mit Simone Buchholz, Elisabeth Plessen, Nicola Seifert (von links) © Collage Foto: Gerald von Foris / Petra Seeger / Katja Scholtz

Lesung in Kiel

Simone Buchholz, Elisabeth Plessen und Nicole Seifert lesen am 14. November in Kiel. mehr

"Nach uns der Himmel": Eine Art Geistergeschichte

Dieses Zwischenweltliche ist, ganz im Stil von Simone Buchholz, nicht träumerisch oder abgehoben beschrieben, sondern wirkt real, direkt.

Die Frau von der Autovermietung schaut durch sie hindurch. Heidi würde ja zu einer anderen Autovermietung gehen. (…) In dem ganzen beschissenen Kaff, (…), gibt es nur eine einzige beschissene Autovermietung, mit einer einzigen beschissenen Autovermietungsfrau, die sie seit inzwischen einer halben Stunde ignoriert. Leseprobe

Weil Heidi womöglich nicht wirklich da ist, sondern tot. Man kann den Roman gut als Geistergeschichte lesen. Das wissen die acht Hauptfiguren aber nicht. Als sie feststellen, dass sie in ihrem Urlaubsparadies von Alltagsproblemen nicht mehr eingeholt werden, beginnen sie Dinge zu tun, die sie so sonst nicht tun würden. Die autolose Heidi zum Beispiel verbringt Zeit mit dem todkranken Teenager Vincent.

(…) seit Langem hat er sich nicht mehr so lebendig gefühlt, meistens fühlt er sich ja sowieso mehr tot als lebendig. Er (…) dreht sich zu ihr und nimmt ihr Gesicht in die Hände. (…) Er sagt nichts und küsst sie stattdessen, (…) sie schmeckt nach Bier und Zigaretten und nach alldem, was gerade in seinen Adern passiert, warm und weich und fest und so fucking lebendig. Leseprobe

Losgelöst von den Zwängen des Lebens

"Ich weiß immer nicht, warum wir so deutsch und bürokratisch an der sogenannten Realität hängen. Ich glaube, eine Wahrheit gibt es da nicht, es gibt nur individuelle Wirklichkeiten. Und meine Wirklichkeit, meine Realität ist lebendig", sagt Simone Buchholz. Ihr neuer Roman lässt die Figuren los von den Zwängen ihres Lebens, und dadurch finden sie zu sich selbst. Dabei wird nicht alles ausgesprochen. Man muss sich die Geschichte selber durch ein Zwischen-den-Zeilen-Lesen zusammenbauen. Dass jeder es anders verstehen dürfte, ist einkalkuliert.

"Ich finde das super, wenn alle ein eigenständiges Buch lesen, obwohl sie das gleiche Buch lesen", so Buchholz. Das erfordert beim Lesen eine gewisse Aufmerksamkeit. Aber dann wird man belohnt. Die Freiheit, die die Figuren in ihrer Zwischenwelt spüren, überträgt sich und geht auf ganz unkitschige Weise ans Herz.

Nach uns der Himmel

von Simone Buchholz
Seitenzahl:
218 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Suhrkamp Nova
Bestellnummer:
978-3-518-47442-6
Preis:
20 €

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Neue Bücher | 16.10.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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