Cover: Mithu Sanyal, "Antichristie" © Hanser Verlag
Cover: Mithu Sanyal, "Antichristie" © Hanser Verlag
Cover: Mithu Sanyal, "Antichristie" © Hanser Verlag
AUDIO: Neue Bücher: "Antichristie" von Mithu Sanyal (5 Min)

Roman "Antichristie": Die Geschichte, die wir nicht sehen wollen

Stand: 16.09.2024 06:00 Uhr

Sind Reisen durch die Zeit möglich? In der Literatur jedenfalls geht es: Mithu Sanyal macht es in ihrem neuesten Roman, der für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert ist, vor.

von Peter Helling

Was sagt Ihnen Vinayak Savarkar, was Madan Lal Dhingra? Mohandas Gandhi? Moment, das war doch der mit dem gewaltfreien Widerstand? Schon richtig. Aber was diese drei verbindet ist: Sie haben um das Jahr 1906 im Londoner "India House", einem Studierenden-Wohnheim, gelebt oder sich dort getroffen. Haben konspiriert oder sogar Bomben gebaut. Mitten in Highgate, im Herzen des Britischen Empires, wurde die Unabhängigkeit Indiens von genau diesem Empire geplant.

Der Roman reist buchstäblich in die Zeit zurück, ins Jahr 1906. Er ist sinnlich und fantastisch, voller Bezüge und Verweise: Wie kommt etwa Sherlock Holmes ins Spiel, und was hat das Ganze mit der Kultserie "Doctor Who" oder dem Tod der Queen im September 2022 zu tun? Mithu Sanyal baut einen Roman wie das Gewirr von Mikado-Stäbchen, das eine innere Logik zusammenhält. Ein Ziehen bringt alles in Bewegung.

Wenn Zeitreisen möglich sind, wird es sie geben. Wenn es sie geben wird, gibt es sie bereits. Aber glaubt ihr im Ernst, dass die Menschen, die die Macht haben, durch die Zeit zu reisen, das verraten würden? Natürlich nicht! Leseprobe

Eine Zeitreise ins Jahr 1906

Es beginnt mit einer Panne, die etwas Tragikomisches hat: Die 50-jährige Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, aber ein Windstoß weht sie ihr und den Trauergästen ins Gesicht, zwischen die Zähne. Durga aus Köln ist Drehbuchautorin. Das Verhältnis zu ihrer deutschen Mutter war schwierig, ihr Vater ist aus Indien. Und die Mutter lässt sie nicht los, die lineare Zeit wird löchrig.

Durga reist kurz danach nach London, mit anderen Autorinnen und Autoren soll sie den Plot für einen neuen Film nach einem Roman von Agatha Christie entwickeln, allerdings anti-rassistisch, feministisch. Detektiv Hercule Poirot, ein Schwarzer? Dagegen regt sich Widerstand: Vor dem Gebäude der Filmfirma wird gegen das vermeintliche Auslöschen der britischen Kultur demonstriert. Doch dann stirbt die Queen. Aus dem Jenseits erreicht Durga eine Nachricht ihrer Mutter. Und völlig unerwartet rutscht sie durch die Zeit, findet sich im Jahr 1906 wieder. Und nicht als Frau, sondern als junger indischer Mann. Ein ekstatischer Moment.

Mein Bauch war nicht nur so flach wie seit Jahren nicht mehr, er kurvte auch nach innen zu seidigen Schamhaaren, und darunter … schaute …. ein … Penis hervor. Gebannt streckte ich meine Hand aus und tippte vorsichtig mit dem Mittelfinger dagegen. Leseprobe

Der Titel "Antichristie" bezieht sich auf das Umschreiben von Agatha Christies weißen Figuren, aber auch auf den "Antichrist": Gemeint ist hier der fast dämonische Freiheitskämpfer Savarkar. Ausgerechnet in ihn verliebt sich Sanjeev - so heißt Durga in ihrem neuen Ich. Savarkar, der Jahre später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wird.

Weitere Informationen
Martina Hefter im Porträt © Andreas Arnold/dpa

Martina Hefter gewinnt Deutschen Buchpreis 2024

Die Autorin erhält den Preis für ihren Roman "Hey guten Morgen, wie geht es dir?". Wir sprechen heute mit ihr, zu hören heute um 18 Uhr auf NDR Kultur. mehr

Mithu Sanyal schreibt über die kollektive Ignoranz des Westens

Der Roman flimmert vor historischen Bezügen, vor Pop-Zitaten und postkolonialer Debatte - das macht das Lesen nicht zum Spaziergang. Mithu Sanyal legt den Finger in die Wunde der kollektiven Ignoranz des Westens, macht es aber mit Humor. Zusammen mit Sherlock Holmes will Sanjeev ein Attentat im "India House" aufklären, und immer wieder bricht die Gegenwart in die Vergangenheit. Es wird klar, dass "Antichristie" selbst ein Kriminalroman á la Agatha Christie ist.

"Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über die Generationen hinweg. Und die Funktion von Krimis ist dabei, Verborgenes sichtbar zu machen. In unserem Fall die unsichtbare Kolonialgeschichte in der Popkultur." Durga war von sich selbst beeindruckt. Leseprobe

Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt: Die Asche fliegt uns als Lesende zurück in den Mund. Als die Geschichte, die wir ignorieren, unterdrücken, nicht sehen wollen. Brillant.

Antichristie

von Mithu  Sanyal
Seitenzahl:
544 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Hanser
Bestellnummer:
978-3-446-28076-2
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 16.09.2024 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Quincy Jones © imago

Quincy Jones ist tot: Was hat seine Musik so besonders gemacht?

Im Gespräch verrät Ingolf Burkhardt, Trompeter der NDR Bigband, wie er Jones bei einem gemeinsamen Konzert kennengelernt hat. mehr