Buch-Cover: Ferdinand von Schirach - Regen © Luchterhand Verlag

"Regen": Ferdinand von Schirachs neues Werk nur schwer erträglich

Stand: 13.09.2023 12:18 Uhr

In seiner neuen Erzählung setzt Ferdinand von Schirach seine Beschäftigung mit existenziellen Fragen fort. In "Regen. Eine Liebeserklärung" geht es auf knapp 50 Seiten um einen Menschen, der gefangen ist in Trauer und Depression.

von Holger Heimann

"Verbrechen", "Schuld" und "Strafe" - so heißen die Storybände, mit denen Ferdinand von Schirach berühmt wurde. Den Justizgeschichten folgten autobiografische Erzählungen, die deutlich machten, dass Schirachs Schreiben nicht vornehmlich von der Erfahrung als Strafverteidiger bestimmt wird. Enttäuschung, Verlorenheit, Reue - das sind die ureigenen Lebensthemen dieses Autors. Mit seinem neuen Buch, einer Erzählung, setzt Schirach seine Beschäftigung mit existenziellen Fragen fort. Ein Mann kommt vom Regen durchnässt in eine Bar und hebt an zu einem Monolog über Schuld und Vergebung.

Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht. Leseprobe

Monolog: Kommt ein Mann in eine Bar …

Zu wem der Redner spricht, bleibt offen. Möglicherweise ist es ein einzelner Gast. Wahrscheinlicher aber scheint es, dass die Bar als größere Bühne dient für sein lautes Nachdenken. Ausgelöst wird der Monolog dadurch, dass der namenlos bleibende Mann als Schöffe einem Gerichtsverfahren beiwohnt. Der dort geständige Angeklagte hat seine Frau aus Eifersucht umgebracht. Der Fall an sich beschäftigt den Erzähler weniger. Die Konfrontation mit dem Tötungsdelikt setzt vielmehr eigene, peinigende und lange zurückgehaltene Erinnerungen frei.

Seit 17 Jahren bin ich ein durch und durch lächerlicher Schriftsteller, der nicht mehr schreibt. Ich gehe trotzdem jeden Morgen rüber ins Schreibzimmer. Die Menschen wollen ja immer etwas sein, was sie nicht sind. Ich sitze dann am Schreibtisch und trinke Kaffee und rauche und schreibe nichts. Als das bei Hemingway so war, ging er nicht mehr in eine Bar. Er schoss sich den Kopf weg. Das kann ich verstehen, weil der Kopf ja sowieso schon weg ist. Leseprobe

Der Kopf ist so gesehen auch bei dem lächerlichen Schriftsteller weg, der seit 17 Jahren nicht mehr schreibt. Seit dem Tag, als das erste und einzige Buch von ihm erschien, allerdings mit einem vom Drucker entstellten Titel. "Statt Gedichte" sollte der Lyrikband heißen. Der Drucker aber, der dachte, dass es sich um einen Fehler handeln müsse, machte aus den zwei Worten das Kompositum "Stadtgedichte".

Der ehrgeizige Dichter ist noch am Abend wütend. Die Frau, die er liebt und die ihn liebt, will ihm zur Beruhigung ein Glas Wasser bringen, fällt um und ist tot. Ein Aneurysma im Gehirn. Der verhinderte Schriftsteller scheint sich seither die Schuld am Tod der Geliebten zu geben. Kein Gericht wird ihn verurteilen. Er selbst aber kann sich nicht freisprechen. Es ist eine Konstellation, die Schirach-Lesern vertraut sein dürfte.

Weitere Informationen
Ferdinand von Schirach, Jurist, Strafverteidiger und Schriftsteller © Ferdinand von Schirach
36 Min

Autor Ferdinand von Schirach im Gespräch

Ferdinand von Schirach erzählt in "Tabu", wie ein Anwalt durch die Verteidigung eines mutmaßlichen Mörders sich selbst zu retten versucht. 36 Min

Gefangen in Trauer und Depression

Ferdinand von Schirach zeigt einen Menschen, der sich beinah nichts mehr erhofft. Er ist gefangen in Trauer und Depression. Leider führt seine ausgeprägte Sinnkrise zu einem prätentiösen Lamento über das moderne Leben und den stillosen Durchschnittsmenschen, das schwer erträglich ist. Die Zivilisationskritik, die hier mit einem fast hysterisch übersteigerten Unterton vorgetragen wird, ist klischeehaft und häufig dicht an Allgemeinplätzen.

Der Sportler, das ist der moderne Mensch. Sie erkennen den modernen Menschen daran, dass er einen Rucksack trägt. Mitten auf dem Kurfürstendamm trägt er seinen Rucksack, so, als wolle er zum Bergsteigen gehen. Dabei ist Berlin vollkommen flach, Bergsteigen in Berlin ist unmöglich. Den modernen Menschen stört das nicht. Im Gegenteil, er hat seinen Rucksack immer dabei. Der sei einfach praktisch und funktionell, sagt er. Ja, praktisch und funktionell sind auch das Selbstbedienungsrestaurant und das Frühstücksbüfett, und dass Sie sich den Botticelli nur noch auf dem Laptop ansehen. Das Praktische und das Funktionelle und das Natürliche führen direkt in die Hölle. Leseprobe

"Regen" von Ferdinand von Schirach: Es geht um alles ein bisschen

"Die Hölle, das sind die anderen", befand Sartre. Er wird hier nicht herbeizitiert. Dafür aber Hemingway, Proust, Capote, Goethe. Denn es geht in dieser kurzen Erzählung, die der Verlag auf 50 Seiten gestreckt hat, auch ein wenig ums Schreiben. Wie es überhaupt um alles ein bisschen geht. Ein Buch wurde daraus erst, weil auf die Story ein etwa gleichlanges Interview folgt, das der Autor der "Süddeutschen Zeitung" gegeben hat. In dem sehr persönlichen Gespräch klingen manche der Themen, die Schirach in "Regen" streift, noch einmal an, teilweise finden sich fast wortgleiche Sätze. Der Verlag preist die Publikation als "eine ebenso mutige wie sehr persönliche Erzählung, ein literarisches Spiel an der Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor". Das mag sein. Dennoch vermag dieses Buch so gar nicht zu überzeugen.

Weitere Informationen
Till Lindemann, Marco Goeckes Dackel und Goofy auf einem Bild © Picture alliance/ ©Buena Vista Pictures/Courtesy Everett Collection / Picture alliance/ Nikolaj Branshom

Rückblick Kulturjahr 2023: Dackeldreck, eine weiße Weste und ein Disney-Dussel

Ein Ballettdirektor rastet aus, eine KI sorgt für die Wiedervereinigung der Beatles und ein Butler weiß immer noch nicht, wo's langgeht - was für ein Kulturjahr! mehr

Regen

von Ferdinand von Schirach
Seitenzahl:
112 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Luchterhand
Bestellnummer:
978-3-630-87738-9
Preis:
20 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 30.08.2023 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Viele Bücher in Regalen in einer Buchhandlung, eine junge Frau steht vor einem der Borde und zieht Bücher heraus © Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Rolf Vennenbernd

Bücher 2023: Diese Romane haben uns bewegt

Ob Juli Zehs "Zwischen Welten", Stuckrad-Barres "Noch wach?" oder Kehlmanns "Lichtspiel" - viele Bücher haben 2023 für Gesprächsstoff gesorgt. mehr

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Charlie Hübner sitzt an einem Tisch. © Thomas Aurin

Charly Hübner als wandelbarer Antiheld in "Late Night Hamlet"

Munteres Late Night Geplauder trifft auf Shakespeare-Drama - so das Setting für den Solo-Abend im Schauspielhaus Hamburg. mehr