Parallelprozesse
Im Vorgriff auf Joseph Beuys 25. Todestag im nächsten Jahr zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zur Zeit eine große Beuys-Retrospektive. Noch nie waren so viele Werke des Künstlers an einem Ort zusammengetragen. Entsprechend umfangreich ist der Katalog dazu, erschienen im Schirmer-Mosel-Verlag. 230 Abbildungen auf 430 Seiten. Eine gewichtige Anschaffung, denn der Band ist auch drei Kilo schwer.
Ein Überblick über sämtliche Schaffensperioden
Über Joseph Beuys gibt es so viele Publikationen, so viele Bildbände, dass es jeder Neuerscheinung schwer fällt, ihr Alleinstellungsmerkmal deutlich zu machen. Der ganze Beuys soll es hier sein. Ein Überblick über sämtliche Schaffensperioden: Vom Beginn seines Kunststudiums in Düsseldorf 1946 bis zu seinem Tod 1986. Die Radikalität seines Frühwerks aus den fünfziger Jahren überrascht. Und ebenso, dass Beuys damals, dreißigjährig, noch ohne Hut herumlief. Ein großäugiger, unschuldiger Junge. Besonders viele Zeichnungen versammelt der Bildband und quetscht dafür zwei Variationen desselben Motivs, eines Frauenkörpers beispielsweise, auf eine Seite. Da fängt für den Hamburger Künstler und Beuys-Verehrer Boran Burchhardt der Ärger an.
"Die Größen der Papiere spielen eine Rolle, und das wird eben nicht mehr ersichtlich. Es werden Größen nebeneinandergestellt, also die können eben vier, fünf, sechs, sieben Mal so groß sein, und sind aber gleich groß abgebildet. Und man erkennt auch nicht, aus welchen Zusammenhängen diese Papiere stammen. Bekommt kein wirkliches Gefühl für das Papiermaterial."
Es fehlen die Detailaufnahmen, die ungewöhnlichen Perspektiven
Ein aus einem linierten Notizblock gerissenes Blatt, gelochter Karton, edles Bütten- oder vergilbtes Zeitungspapier. Das spielte für Beuys eine große Rolle, unterscheidet sich im Katalog aber nur noch durch einen Gelb- oder Graustich. Seinen großen Installationen ergeht es nicht wesentlich besser. Es ist ja schön, dass sie jetzt in Düsseldorf mal wieder aufgebaut sind: Die "Straßenbahnhaltestelle", die "Hongpumpe am Arbeitsplatz" oder das "Rudel", eine Meute von Kinderschlitten aus Holz, die, bepackt mit Filzdecken und Taschenlampen, aus einem VW-Bus ausbrechen. Aber von der sinnlichen Präsenz dieser Objekte vermittelt sich in den Fotografien wenig, denn es fehlen die Detailaufnahmen, die ungewöhnlichen Perspektiven. Jener Wille zu neuen Formen, den Beuys seinerzeit auf alle Lebensbereiche ausgedehnt hat.
"Wie der Produktionsbereich gestaltet werden muss, der Markt, die Konsumseite, das sind Fragen, die in meinem totalitarisierten Kunstbegriff eine wichtige Rolle spielen."
Reproduktionen in matschig-düsteren Grautönen
Die älteren Aufnahmen von Beuys und seinen Aktionen könnten etwas von dieser revolutionären Kraft vermitteln. Doch sie sind in so matschig-düsteren Grautönen reproduziert, als handle es sichum mehr als hundert Jahre alte Fotos. Und damit wird der Künstler in eben jenes Museum gestellt, aus dem er zu Lebzeiten stets ausbrechen wollte.
"An und für sich wäre ich dafür, dass die Sachen im Bahnhof ausgestellt werden. Aber Sie wissen ja, im Bahnhof wären sie sehr schnell weg von der Wand."
Die Texte des Katalogs beschwören, Beuys habe nichts von seiner Aktualität eingebüßt, er sei bis heute "lebendig". Aber die Abbildungen feiern Totenmesse. Die letzte: Ein Kreuz. Wer in seinem Bücherregal vor allem Lexika und Nachschlagewerke aufbewahrt, mag dieses dazustellen. Doch wer sich an Beuys reiben, sich von ihm entzünden lassen will, der besorgt sich antiquarisch Armin Zweites "Natur Materie Form". Ein auch bei Schirmer/Mosel erschienenes Beuys-Buch. Bloß zwanzig Jahre alt - und besser.
Parallelprozesse: Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlung NRW vom 11.9.2010 bis 16.1.2011
- Seitenzahl:
- 430 Seiten
- Genre:
- Bildband, Sachbuch
- Verlag:
- Schirmer/Mosel
- Bestellnummer:
- 978 382 960 4819
- Preis:
- 58,00 €