Oft übersehen, oft bedroht: Ein Buch über Obdachlosigkeit bei Frauen
Linda Rennings hat den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft und den Verein "Heimatlos in Köln" gegründet. In ihrem Buch "Rebellin der Straße" schreibt sie von ihrem Leben und über das Versagen der Politik beim Thema Wohnungslosigkeit.
"Als Obdachloser bist du eigentlich auch im Stress. Du hast auch deinen Plan - deine Tagesstruktur ist nur anders. Ich fange morgens an, wenn ich wach werde. Jeder normale Bürger zu Hause im Badezimmer - was macht der, wenn er wach wird? Der geht aufs Klo, weil er muss", sagt Linda Rennings.
In ihrem Buch erzählt sie, wie das ist, wenn man keine Toilette hat:
"Männer stellen sich irgendwo an einen Baum oder in eine Ecke. Unschön. Aber machbar. Dir platzt weder die Blase, noch musst du dir in die Hose machen. Frauen auf der Straße haben vor allem am Morgen dieses Problem: Wo kann ich in Ruhe meine Notdurft verrichten?" Leseprobe
Und dann: Wo wasche ich mich? Wo kriege ich ein Frühstück her, das ich mir leisten kann? Wer schützt mich vor Gewalt? "Ich habe das Buch zum einen für mich selber geschrieben, weil ich wollte, dass das Thema obdachlose Frauen wieder in die Gesellschaft, in die Medien, in die Öffentlichkeit getragen wird", erklärt Rennings.
Das Elend ist oft unsichtbar
Wie sie obdachlos geworden ist? "Ich bin krank geworden. Ich habe meinen Job verloren und konnte die Miete nicht zahlen, bin geräumt worden. Klassiker!" Rennings hat in Köln einen Verein für obdachlose Frauen gegründet. Das Elend ist oft unsichtbar. Fast eine halbe Million Menschen in Deutschland haben keine Wohnung. Frauen geraten da oft in gefährliche Abhängigkeiten. Sie schlüpfen irgendwo unter. Mehrere Zehntausend Menschen leben sogar ständig auf der Straße.
"Ich habe erst letzte Woche einen Notfallanruf von einer 73-Jährigen gekriegt", erzählt Rennings. "Wir haben Frauen bis zu 80, die auf der Straße sind. Ich finde, das ist ein Skandal. Wir haben nirgendwo in der Stadt ein Schild, auf dem steht: Da ist eine Einrichtung. Da ist ein Sozialarbeiter. Entweder ich habe Glück und treffe jemand, der mich mitnimmt und sagt: Da kannst du hingehen, da kriegst du Hilfe. Oder man versinkt."
Besondere Schutzräume für Frauen
In Berlin wird das Duschmobil für die nächste Klientin vorbereitet - ein Angebot nur für Frauen. "Das geht ein bisschen aus der Überzeugung heraus, dass Frauen einen besonderen Schutzraum brauchen und dass das Leben auf der Straße sie nochmal mit einer anderen Härte trifft als Männer", erzählt die Streetworkerin Rike Lehmbach, "weil Frauen in unserer Gesellschaft häufig betroffen sind von sexualisierter Gewalt und deswegen besondere Schutzräume brauchen."
Hier bekommen sie frische Kleider, Unterwäsche, einen Kaffee und sie können duschen, solange sie wollen. "Duschen ist ein Stück Lebensgefühl", findet eine Klientin. "Man kann lange aushalten ohne, aber ab und zu mal eine heiße Dusche, mit Haare waschen... - einfach mal alles ablaufen lassen."
Wohnungslosigkeit ist kein persönliches Versagen, sagen Elke Ihrlich und Christin Weyershausen vom Sozialdienst katholischer Frauen. Trotzdem schämen sich viele. "Manchmal gibt es Frauen, die tagsüber einer Arbeit nachgehen und nachts in ihrem Auto oder sonst wo schlafen. Auf der Arbeit merkt man nicht, dass die wohnungslos sind", erzählt Ihrlich, und Weyershausen ergänzt: "Ich kenne aus dem privaten Kontext Menschen, die wegen Eigenbedarf ihre Wohnung verloren haben und einfach keine neue Wohnung gefunden haben. Das ist unabhängig davon, wie viel jemand verdient. Das kann jedem passieren."
Trennung als häufiger Grund für Obdachlosigkeit
Wo die Mieten rasant steigen, wo Wohnen zum Luxus wird, kann das vor allem für Frauen gefährlich werden: Der Partner verdient mehr, hat deshalb den Mietvertrag unterschrieben, das Paar trennt sich - die Frau landet auf der Straße. "Die Großgruppe zwischen 30 und 50 gibt es eben aus diesen Trennungsgründen", sagt Ihrlich. "Dann gibt es aber auch eine Gruppe von Menschen, die zwischen 50 oder 60, 70, 80 sind - bis dahin geht es. Das sind Frauen, die früher wenig verdient haben, weil sie die Kinder großgezogen haben, und dann entsprechend, wenn die Miete teurer wird, die Miete nicht mehr tragen. Sie trauen sich nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder wissen nicht, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen können."
Einige soziale Träger bieten Zimmer für Obdachlose. Das ist mit Bedingungen verknüpft, zum Beispiel Schulden in den Griff kriegen oder für Suchtkranke: clean werden. Mit diesem Druck und der ständigen Kontrolle kommen viele nicht zurecht. Deshalb gibt es "Housing First". "Wir helfen den Frauen dabei, einen eigenen Mietvertrag abzuschließen, in einen eigenen Wohnraum zu gehen. Dann fangen wir an, an den Themen zu arbeiten, die die Frauen mitbringen", erklärt Weyershausen.
"Housing First" organisiert Wohnungen für obdachlose Frauen
Ein eigener, sicherer Ort, ohne Bedingungen: 108 Frauen haben dank "Housing First" in Berlin eine Wohnung. Auf der Warteliste stehen fast 200 alleinstehende Frauen und mehr als 100 mit Kindern. Martina Wehran ist vor ein paar Monaten eingezogen: "Ich habe einen Rückzugsort, ich fühle mich wohl! Ich habe eine ganz andere Lebensqualität. Ich kann hier kochen. Ich bin in meinem Bereich und das finde ich sehr schön."
Auch Linda hat inzwischen wieder eine Wohnung. Für Frauen, die auf der Straße leben, muss viel mehr getan werden, schreibt sie in ihrem Buch:
"Es braucht andere Angebote, tagesstrukturierende Maßnahmen. Es braucht niedrigschwellige Arbeitsangebote. Es braucht niedrigschwellige Aufenthaltsorte. Und all das gibt es viel zu wenig für die Zahl, die gestiegene Zahl der wohnungslosen Frauen." Leseprobe
Rebellin der Straße
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Rowohlt Taschenbuch
- Veröffentlichungsdatum:
- 15. Oktober 2024
- Bestellnummer:
- 978-3-499-01478-9
- Preis:
- 14 €