"Nicht aus der Welt": Geheime Auszeit im rätselhaften Hotel
Wenn alles zu viel wird im Alltag, dann ist Abhauen manchmal eine Option. Aber wohin? Bringt die Flucht überhaupt die ersehnte Erleichterung? Diese Gedanken stellt die Autorin Anne Köhler in den Mittelpunkt ihres neuen Romans.
Hempel ist ein phlegmatischer Langzeitstudent. Er hat sich eingerichtet in seinem wenig aufregenden Leben in Berlin. Am liebsten will er Nichtstun - außer vielleicht: seiner Freundin gefallen. Als sie ihn eines Tages nach seinem größten Traum fragt, erfindet er spontan einen: Mitmachen beim Marathon in New York. Für ihn klingt das abwegig genug. Er rechnet mit keinen weiteren Nachfragen. Sie lässt jedoch nicht locker. Seine kleine Lüge nimmt Gestalt an.
Er hatte sich sündhaft teure Laufschuhe gekauft und war vier Mal pro Woche losgelaufen, zuerst schwungvoll, mit den besten Vorsätzen, dann in einen Trab verfallend, der rasch in eine gemächliche Gangart mündete, bis Hempel sich als Spaziergänger wiederfand, der auf einer Bank unter einem Baum eine Pause machte. Wenn er von diesen gescheiterten Laufversuchen zurückkehrte, wirkte er stets abgekämpft, auch wenn es nicht seine Ausdauer war, mit der er gerungen hatte, sondern sein innerer Schweinehund. Buchzitat aus "Nicht aus der Welt"
Angespornt von der Freundin meldet sich Hempel zum Marathon an - untrainiert und ratlos, wie er aus dieser Lüge wieder herauskommt. Wenn er doch nur die Flucht ergreifen könnte, denkt er.
"Nicht aus der Welt" erzählt von gescheiterten Großstadtexistenzen
Unterhaltsam und nachvollziehbar stellt uns Anne Köhler in "Nicht aus der Welt" eine Hand voll gescheiterter Großstadtexistenzen vor, die kurz vor dem Zusammenbruch stehen, darunter: der Ziellose mit erfundener Leidenschaft, die Börsenmaklerin mit Burnout, die Mutter mit Gewaltfantasien. Bis hierhin überrascht der Roman nicht unbedingt, faszinierend jedoch ist der Ausweg, den die Autorin für Hempel und die anderen Figuren entwirft.
Anonym wird den Verzweifelten ein Zimmerschlüssel zugesteckt. Für ein geheimes Hotel, das Unterschlupf bietet. Eine Idee des Architekten Valentin, der während seines Studiums den Reiz von Verstecken für sich entdeckt hat. Mit Kommilitonen entwickelte er das Konzept.
Sie wollten eine Zuflucht erschaffen für die Menschen, die ein Innehalten brauchten. Einen Ort, an dem sie isoliert sein konnten, wo niemand sie erreichte. Wo sie frei von Beeinflussung oder Manipulation durch andere nachdenken konnten. Wo sie nicht mit Fragen bedrängt oder ihnen Entscheidungen abverlangt wurden, die zu treffen sie nicht in der Lage waren. Ein Ort, an dem sie ohne Druck bleiben konnten, bis sie sich bereit fühlten, zurückzukehren. Oder bis sie sich entschlossen, aus dem eigenen Leben zu verschwinden. Buchzitat aus "Nicht aus der Welt"
Fantasievoll und detailliert
Valentin hat die Utopie inzwischen verwirklicht: Er ist Direktor des geheimen Berliner Hotels, das ein unbekannter Spender finanziert.
Fantasievoll und detailliert zeichnet die Autorin diesen Ort. Dass sie selbst mal Architektur studiert hat, ist spürbar. Im Inneren des Gebäudes befindet sich ein Labyrinth aus langen Gängen, versteckten Fluren, getarnten Türen. Nur das Personal findet sich zurecht. Die Gäste sollen einander möglichst nie begegnen. Bewohnerin Linda zum Beispiel, die ihr Gedächtnis verloren hat, weiß die Isolation zu schätzen.
So ließ sie nach einiger Zeit alles los und hörte auf, ihren Aufenthalt im Hotel zu hinterfragen. Es war für alles gesorgt. Von da an hatte Linda sich dem Nichts überlassen, war im Dahinrauschen der Tage verloren gegangen. Buchzitat aus "Nicht aus der Welt"
Packende Grundstory ohne große erzählerische Entschlossenheit
Nicht allen Figuren ist das Konzept geheuer. Als Hempel türmt und zufällig anderen Hotelgästen begegnet, fasst die Truppe den Entschluss, einander aus den verschiedenen Notlagen herauszuhelfen und beginnt einen Roadtrip in die brandenburgische Provinz. Da wird die Geschichte mitunter etwas holprig und klamaukig, spätestens als alle bunte Weihnachtspullover mit Tiermotiven anziehen.
Die Reise hätte das Buch nicht gebraucht. Spannender wäre es gewesen, die Autorin hätte ihre wirklich geniale Idee von der geheimen Auszeit im rätselhaften Hotel bis zuletzt verfolgt. "Nicht aus der Welt" - eine packende Grundstory, locker-leicht und liebevoll erzählt, die jedoch ein bisschen mehr erzählerische Entschlossenheit vertragen hätte.
"Nicht aus der Welt"
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- DuMont Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 11.11.2022
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-8264-9
- Preis:
- 24 Euro €