"I Walk Between the Raindrops": 13 Kurzgeschichten von T.C. Boyle
Der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle lässt mit knappen Beschreibungen Situationen, Stimmungen und Spannungsbögen entstehen. Selbst die mittlerweile auserzählte Covid-Thematik wird bei ihm zum Pageturner.
"Ich schreibe, um selbst Dinge herauszufinden, mir klar zu machen", erzählt Boyle. "Mein Hauptanliegen meiner gesamten Karriere ist immer unsere Beziehung zu unserem Planeten gewesen, der unsere Art erhält, während wir ihn langsam zerstören." Gleich die erste titelgebende Kurzgeschichte beschreibt den Klimawandel als eine Art "Apokalypse Now": Weil die "Raindrops" endzeitliche Dimensionen bekommen:
Die riesigen Niederschlagsmengen ließen eine Mure abgehen, die alles, was auf ihrem Weg zum Meer lag, vor sich herschob: Häuser, Wagen, Bäume, Felsblöcke und dreiundzwanzig meiner Nachbarn, die in den darauffolgenden dunklen, kalten, knirschenden Stunden unter Erdmassen begraben und getötet wurden. Leseprobe
Derart drastische Folgen der Erderwärmung hat T.C. Boyle direkt vor seiner Haustür in Santa Barbara erlebt: "Es ist sechs Jahre her. Als wir ein Feuer hatten, das die Berge entblößte, die ich aus meinem Fenster sehe. Danach brachte ein Regensturm den gesamten Berg nach unten und tötete 23 Nachbarn im Schlaf. Das gibt der Geschichte insgesamt eine andere Richtung."
Ohne Rücksicht auf politische Korrektheit
Die fein konstruierte Titelgeschichte, in der es auch um Suizidprävention und Einsamkeit geht, ist übrigens T.C. Boyles persönlicher Favorit in diesem Band. Besonders lesenswert sind auch seine beängstigenden Zukunftsszenarien zur Künstlichen Intelligenz: Wenn zum Beispiel das sprechende Auto namens Carly seine Eigentümerin vollkommen automatisch von A nach B fährt, dabei allerdings auch eigenmächtig entscheidet, wer mitfahren darf und wer nicht.
"Es tut mir leid", sagt Carly, "aber diese Person ist nicht vertrauenswürdig. Erinnerst du dich nicht, was am Dienstagabend um 21 Uhr 19 von dem Tierheim im Haverford Drive 83622 passiert ist?" "Carly" sagt sie "mach die Tür auf." "Ich halte das für unklug." Leseprobe
Einige Geschichten spielen in der Vergangenheit, als noch "Männer Männer waren und Frauen Frauen". Viele aktuelle Themen werden verhandelt, darunter kulturelle Aneignung. Boyle formuliert ohne Rücksicht auf politische Korrektheit. Übergewichtige sind bei ihm fettleibig - Body-Positivity hin oder her. Dick oder dünn, jung oder alt, Mann oder Frau - die Figuren spiegeln verschiedenste Lebenswelten wieder: "Ich fühle mich wohl, aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu schreiben", sagt Boyle. "Mann, Frau, alt, jung, aus verschiedenen Ländern, das ist eine Herausforderung für mich."
T.C. Boyles schonungslose Beobachtungen
Boyles 13 Geschichten erzählen von familiären Beziehungen und unserem Verhältnis zu Tieren, von Loyalität und Liebe, Freundschaft und Verrat, von der Fragilität des Glücks und des Lebens überhaupt. Sie führen uns in Groß- und Kleinstädte in den USA, mit Abstechern nach Frankreich, wo wir den unbeabsichtigten Drogenrausch eines ganzen Dorfes erleben, 1951 ausgelöst durch mit Mutterkorn verunreinigtes Mehl.
Ob Drogenrausch, Hundelabor oder Schulkollegium - T.C. Boyle lässt mit knappen Beschreibungen Situationen, Stimmungen und Spannungsbögen entstehen. Selbst die mittlerweile eigentlich auserzählte Covid-Thematik - hier Corona-Ausbruch auf einem Kreuzfahrtschiff - wird bei ihm zum Pageturner.
Die letzte Kurzgeschichte spielt in einem Versuchslabor für Hunde und hat ein für Boyle ganz untypisches Happyend. Insofern bleibt man als Leserin halbwegs entspannt zurück. Aber sein nächster Roman ist schon in Arbeit und wird uns garantiert wieder aufwühlen und aufrütteln mit seinen schonungslosen Beobachtungen der Welt.
I Walk Between the Raindrops
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Annette Grube
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27403-7
- Preis:
- 25 €