"Gedichte und Lieder": Hermann Claudius zwischen Poesie und Propaganda
Hermann Claudius war einst Hamburgs populärster Dichter und prägte die plattdeutsche Kultur. Wegen seiner Rolle in der NS-Zeit ist er heute umstritten. Nun erscheint sein Gesamtwerk "Gedichte und Lieder" - mit dem Versuch einer neuen Einordnung.
"Wann wir schreiten Seit' an Seit' / und die alten Lieder singen!" Bis vor ein paar Jahren gab es kaum einen SPD-Parteitag, an dessen Ende nicht dieser Hermann-Claudius-Klassiker von den Genossinnen und Genossen gesungen wurde. Im Stehen. Und auch im Evangelischen Gesangbuch steckt ein rührendes Weihnachtslied von Hermann Claudius: "Wisst ihr noch wie es geschehen?". Bei SPD-Veranstaltungen wird das Arbeiterlied nach Intervention der Jusos nicht mehr gesungen, und auch die Evangelische Kirche überlegt, ob das Claudius-Lied in der Neuauflage des Gesangbuches noch einen Platz haben soll.
Industrieproletariat als Personal der Gedichte

70 Jahre lang hat Claudius in Hamburg gelebt, geboren in der Kieler Straße in Langenfelde. Er sei ein gläubiger Christ und überzeugter Sozialdemokrat gewesen, und viele seiner Texte würden genau diese Sprache sprechen, sagt Gerd Katthage, der das Claudius-Gesamtwerk jetzt neu herausgegeben hat. "Das Personal seiner Gedichte war unter anderem das prekäre Industrieproletariat, wie man es heute nennen würde", sagt Katthage. "Er hat sehr genau hingeschaut, in welch schwierigen Verhältnissen die Menschen gelebt haben. Das war das Sujet seiner Gedichte."
Claudius arbeitete als Grundschullehrer, erlebte in der Schule den Brand des Hamburger Michels 1906 mit und erzählt davon in dem bekannten Gedicht "De Grote Michel":
Dunnersdag? Wi stiert uns an!
Schippsjung, Käppen, Stüermann.
Stüerboord dor schreeg dat her:
"He hett brennt! He steiht nich mehr,
de Grote Michel!"
Alltohoop benaut to Sinn
fohrt wi wieder habenin.
Över Hamborg liggt de Sünn,
söcht un kann em nich mehr finn'n,
den Groten Michel!
aus "De Grote Michel"
Claudius wurde populär. Seine Gedichte wurden in der Schule auswendig gelernt. "Er hat die niederdeutsche Lyrik von dieser Heimat- und Dorfidylle befreit und stattdessen über den Hamburger Hafen, über Streiks und Arbeitslosigkeit gedichtet und auch als Lehrer und Vater von vier Kindern wunderschöne, witzige Kindergedichte auf Platt verfasst", erklärt Katthage.
Gedicht zu Adolf Hitlers 50. Geburtstag
Dann kam die Nazizeit. Nach einem Motorradunfall wurde Claudius als Lehrer pensioniert und war gezwungen, seinen Lebensunterhalt zu dichten. Er wurde Teil der NS-Kulturpolitik. Zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers verfasste er als Auftragsarbeit ein Gedicht in Form eines Gebets. "Er war kein begeisterter Nazi, aber er musste schreiben, damit er seine sechsköpfige Familie durchkriegt", versucht Katthage diese Phase nachzuvollziehen. Claudius habe keine andere Wahl gehabt, er habe nicht einfach ins Exil gehen können wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht. "Der war ein kleiner Lehrer und musste jeden Tag überleben, und das konnte er nur, indem er sich mit dem Regime arrangierte."
Dass er sich aber auch nach dem Krieg nicht kritisch mit dieser Zeit auseinandergesetzt habe und auch den Kontakt zu problematischen, belasteten Zeitgenossen suchte, sei der entscheidende Fehler gewesen, sagt Katthage. "Das ist nicht zu entschuldigen. Man kann als Schriftsteller nicht unpolitisch sein. Aber genau das hat er gedacht."
Geburtstagstelegramm von Willy Brandt
Zunächst überwog in der Nachkriegszeit noch die Anerkennung. Bundeskanzler Willy Brandt schickte noch 1973 zum 95. Geburtstag ein Geburtstagstelegramm, in dem er schwärmt: "Ihr umfangreiches Werk gehört zum besten literarischen Besitz unseres Volkes." Heute ist der Blick auf Hermann Claudius oft ein anderer. Die Rolle als Profiteur der Nazizeit steht im Vordergrund.
Katthage hat Claudius vor seinem Tod 1980 im Alter von 102 Jahren persönlich kennengelernt. Sein Vater war der Archivar des Dichters, und er hat nun die Aufgabe von ihm übernommen. Seiner Meinung nach tut man Claudius Unrecht, wenn man sein Werk ausschließlich im Lichte der Nazizeit bewertet. "Er ist ein vergessener Dichter, und das finde ich schade", sagt Katthage. "Er gehört sicherlich nicht zur ersten Reihe der deutschen Literatur, aber gerade die Kindergedichte und die Geschichte aus der Lebenswelt der kleinen Leute kann man heute noch sehr gut lesen."
Gedichte und Lieder
- Seitenzahl:
- 1552 Seiten
- Genre:
- Gedichtband
- Zusatzinfo:
- zwei Bände
- Verlag:
- Quickborn
- Veröffentlichungsdatum:
- 15. Oktober 2024
- Bestellnummer:
- 978-3876515113
- Preis:
- 36 Euro €
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Lyrik
