"Gebrochen-Weiß": Der Traum von einem besseren Leben
Der mehrfach ausgezeichneten Astrid H. Roemer gelingt mit "Gebrochen-Weiß" eine dynamisch-mitreißende Geschichte. Was jedoch als faszinierend-soghafte Lektüre beginnt, endet mit Befremden.
Astrid H. Roemer wurde 1947 in der niederländischen Kolonie Surinam geboren, einem kleinen Karibikstaat im Norden Südamerikas. In ihren Romanen beschäftigt sich Roemer immer wieder mit dem Kampf der Schwarzen Frauen um ein selbstbestimmtes Leben. In ihrem neuesten Buch, das vor allem in Surinam spielt, lässt sie gleich einen ganzen Chor an Frauenstimmen auftreten.
Frauen aus drei Generationen erheben ihre Stimmen
Jeden Morgen steht Großmutter Bee im Bad und spuckt Blut. Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Ihre Kinder und Enkel aber ignorieren ihren Zustand. In der Familie Vanta spricht man schon lange nicht mehr miteinander. Bis die 16-jährige Enkelin Imker zu Bee zieht, die so gern Zigarren raucht.
Sie nahm die Dose und setzte sich an den Küchentisch. Du darfst nicht rauchen, Oma. Imker hatte recht. Sie musste versuchen, sich fernzuhalten von Zigarren. Draußen brach das Morgenlicht durch. Ihre Enkelin blieb bei ihr. Ich rauche, um nicht zu weinen. Imker nickte und setzte sich ganz dicht zu ihr: Wein lieber, Oma, bis es vorbei ist. Leseprobe
Imkers Entscheidung, ihre Großmutter zu pflegen, und die gleichzeitige Verbannung ihrer Lieblingsschwester Heli in die Niederlande, um so eine verbotene Affäre zu unterbinden, bricht die Erstarrung der Familie Vanta auf und zwingt sie, sich verdrängten Traumata zu stellen. Angesiedelt im kolonisierten Surinam um 1960, erheben vor allem Frauen aus drei Generationen ihre Stimmen. Sie eröffnen einen vielstimmigen Erinnerungs- und Erzählfluss über familiäre Ausgrenzung, heimliche Lust- und Liebeserfahrungen, rassistische Demütigung, sexuelle Gewalt und den Kampf um Selbstbestimmung. Dabei prallen alte, christlich-koloniale Moralvorstellungen auf junge, emanzipatorische Lebensentwürfe, auf den Drang nach persönlicher Freiheit.
Astrid Roemers sinnliche Sprache
Der mehrfach ausgezeichneten Astrid Roemer gelingt durch schnelle Perspektiv- und Zeitenwechsel und eine sinnlich-lustbetonte Sprache eine dynamisch-mitreißende Geschichte, die ihre Anfänge um 1900 mitten im Amazonas-Urwald hat, wo Großmutter Bee, Tochter eines verarmten Plantagenbesitzers, mit dem ehemaligen Sklaven Anton verheiratet wurde - ein ewiges Familienthema.
Mindestens einmal im Jahr wurde das Territorium abgesteckt und der Stammbaum wurde kurz entwurzelt. Und dann kamen die Erwachsenen immer wieder zu dem Schluss, dass sie alle, auf welche Weise auch immer, gebrochen-weiß waren. Leseprobe
Die Hautfarbe bestimmt über die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten im unterjochten Vielvölkerstaat. Und Bee ist vom Aufstieg besessen. So muss sich Großvater Anton bei der Armee verdingen, damit seine Kinder eine niederländische Schule besuchen können, und die Töchter danach - dann schon im eigenen, großen Haus in der Hauptstadt Paramaibo - das Lehrerinnenseminar, das, natürlich, ein Niederländer leitet.
Seine Augen leuchten blau, und während er die Namenliste vorliest, wirft er jedem von uns einen amüsierten Blick zu: vierzehn junge Frauen und neun junge Männer, sechs Chinesinnen, fünf Hindustanen, vier Javanerinnen, acht Kreolinnen und Kreolen. Jetzt lächelte er breit. Dann sagte er (...): Wer von mir eine schlechte Note bekommt, für den wird das nichts mit Unterrichten! Niemand rührt sich. Keiner sagt etwas. Leseprobe
"Gebrochen-Weiß": Faszinierende Lektüre mit befremdlichem Ende
Lange wirkt es, als würde die Familiengeschichte die Geschichte des kolonisierten Landes spiegeln, das bis heute eines der ärmsten der Welt ist. Bis man merkt: Astrid Roemer konzentriert sich - kritik- und distanzlos - allein auf Aufstieg und Leben der Familie Vanta. Die zählt 1960 zur Elite, besteht aus reichen Medizinern, Juwelieren, Piloten, Kaufmännern und studierten Frauen. Bungalows und Juwelen werden wie Zuckerwatte verschenkt. Den Kindern steht die Welt offen. Und die in die Niederlande verbannte Tochter findet es im Herzen der Kolonialmacht, die ihre Heimat verheert, großartig. Als besäße Surinam keine eigene Kultur und Geschichte. Als würde Surinam nicht bis heute ausgebeutet und den Indigenen das Recht auf ihr Land verweigert werden.
So endet, was als faszinierend-soghafte Lektüre begann, mit Befremden.
Gebrochen-Weiß
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
- Verlag:
- Residenz
- Bestellnummer:
- 978-3-701-71767-5
- Preis:
- 28 €