"Die Zukunft der Wahrheit": Kluges Buch von Werner Herzog
Filmregisseur Werner Herzog schreibt über die Wahrheit als Suche und Expedition ins Unbekannte. Das Schöne an dem Buch: Man kann sich treiben lassen wie auf einer Wanderung.
Vorne auf dem Bucheinband: ein Pinguin, verschwindend klein, vor einem schneebedeckten Bergmassiv, als wolle er da hinauf. Aber wie soll es das Tier anstellen?
Werner Herzog schreibt über die Wahrheit als Suche und Expedition ins Unbekannte. Und er nennt sie einen Prozess:
Wahrheit scheint mir eher als eine immerwährende Bemühung, sich ihr anzunähern. Als Bewegung auf sie zu, als ungewisse Reise, als Suche voll Mühe und Vergeblichkeit. Aber diese Fahrt ins Ungewisse gibt uns Sinn und Würde, sie ist es, die uns von den Kühen auf der Weide unterscheidet. Leseprobe
Der weltbekannte Regisseur liefert keine Definition von Wahrheit, sondern untersucht sie wie einen Gegenstand, der ihn fasziniert, wirft Licht darauf, aus verschiedenen Perspektiven - wie im Film.
Wahrheit und Fakten sind nicht dasselbe
Wer dieses schmale Buch aufschlägt, meint sofort, die sonore Stimme Herzogs mit dem bayerischen Akzent zu hören. Ein Buch über Wahrheit könnte schnell nach Lebensratgeber, nach Sonntagspredigt klingen. Werner Herzog raunt zwar in aller Seelenruhe, selbstgerecht wirkt er aber nie. Er untersucht die Wahrheit von Gefühlen, etwa die überwältigende Anteilnahme der Menschen am Tod Prinzessin Dianas. Er schreibt, dass Wahrheit in der Oper zu finden sei, ausgerechnet dort, wo völlig abstruse Geschichten verdichtet werden - die die Menschen zutiefst erschüttern.
Die Gefühle der Großen Oper kommen in dieser Art eigentlich gar nicht in der Natur, der Menschennatur, vor, aber wir besetzen diesen "undenkbaren" Kern mit der vollen Bandbreite von Gefühlen, die auf geheimnisvolle Weise irgendwie echt erscheinen, wahrhaftig. Leseprobe
Eines stellt er hier schon mal klar: Wahrheit und Fakten sind nicht dasselbe.
Wenn Fakten alleine zählten, wäre das Telefonbuch das Buch der Bücher. Leseprobe
Werner Herzog: Kein Freund der Lüge
Wahrheit ist für ihn immer ein Mehr, ein Tiefer, ein Höher. Wahrheit mit der Lüge zu erzählen, befürwortet er als Mittel der Kunst, der Poesie. Er, ein Dichter, ein Verdichter, dreht aber damit nicht die Wahrheit um, sondern macht die Lüge kenntlich und erzeugt eine andere Wahrheit, wie er schreibt. An einer Stelle wettert er ziemlich gnadenlos gegen die Psychologie:
(...) die wiederum mir ein Gräuel ist. Die psychologische Interpretation von allem und jedem beleuchtet dunkle Nischen in unserem Inneren, die man eigentlich nicht ausleuchten sollte. Leseprobe
Er ist kein Freund der Lüge, sondern des Halbdunkels, des Unscharfen, des Mysteriösen und Geheimnisvollen. Er erzählt von historischen Fake-News, von Kaiser Nero und Pharao Ramses, beschreibt Agenturen in Japan, die Akteure vermieten, die auch mal in die Rolle eines "echten" Bräutigams schlüpfen, wenn die Braut lesbisch ist und ihre Eltern - die nichts von der Wahrheit wissen - beruhigen will.
Werner Herzog über Künstliche Intelligenz
Werner Herzog ist ein Meister des Erzählens; er assoziiert, mäandert, schlägt Haken, als schlüge er Schneisen in einen Dschungel. Das Schöne an dem Buch: Man kann sich treiben lassen wie auf einer Wanderung. Gehen zu Fuß, ohne schweres Gepäck, empfiehlt er übrigens als direkten Weg zur Wahrheit. Und Künstliche Intelligenz sieht er nicht nur negativ:
Wir werden eine Neugestaltung unserer Rolle in der Wirklichkeit erleben, wie auch des Verständnisses von Wirklichkeit selbst. Dahinter, wie ein Tier, das sich duckt, verbirgt sich immer und immer wieder die Frage der Wahrheit. Leseprobe
Herzog: "Ohne Lesen werdet ihr nie einen großen Film machen"
Er warnt, mahnt, lockt auch, empfiehlt vor allem eines:
Jungen Filmemachern, die mich um Rat fragen, hämmere ich ein: Lest, lest, lest, lest, lest. Lest. Wenn ihr nicht lest, werdet ihr vermutlich trotzdem Filme machen, aber im besten Fall mittelmäßige. Ohne Lesen werdet ihr nie einen großen Film machen. Leseprobe
Das kluge Buch ist eine Annäherung. Wahrheit lässt sich nur umkreisen. Nie finden. Darin, immerhin, liegt eine Wahrheit.
Die Zukunft der Wahrheit
- Seitenzahl:
- 112 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27943-8
- Preis:
- 22 €