"Die Autistinnen": Einfühlsame Aufklärung über Autismus
Erst mit 42 Jahren bekam die Schwedin Clara Törnvall die Diagnose: "hochfunktionaler Autismus". In ihrem Buch klärt sie darüber auf und wirbt mit Klugheit und Charme um Verständnis für die Betroffenen.
Autismus ist eine Störung im Gehirn, eine Kontakt- und Kommunikationsstörung, die mit etlichen Mythen ebenso wie mit Fehldiagnosen verbunden ist. Für Clara Törnvall war es eine Erleichterung, zu erfahren, dass in ihrem Leben tatsächlich etwas anders ist. Aber was bedeutet "anders"? Sie sagt über sich, dass sie keine Mimik deuten, nicht zwischen den Zeilen lesen könne und beschreibt sich so:
Ich bin permanent angespannt und erfüllt von einer Trauer, die ich nicht begreife. Nachts schlafe ich mit geballten Fäusten (…) Soweit ich zurückdenken kann, habe ich mich anders gefühlt. Ich rechne nach. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich sechs Einzeltherapien bei verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten gemacht, sowie drei Paar- oder Familientherapien, ich habe zwei verschiedene Antidepressiva verschrieben bekommen sowie diverse angstdämpfende Medikamente (…) Und irgendwann dachte ich: Es kann nicht richtig sein, dass es einem so geht. Therapien und Medikamente müssen doch etwas bewirken. Leseprobe
Autismus kann vererbt werden
Clara Törnvall wechselt in ihrem Buch zwischen der Beschreibung des eigenen Leidensweges und sehr einfühlsamer Aufklärung über Autismus. Sie erzählt davon, dass man lange Zeit die sogenannten "Kühlschrankmütter" für die Probleme verantwortlich gemacht hat. Aber vielleicht litten diese Mütter einfach selbst an Autismus? Inzwischen hat man herausgefunden, dass es sich um eine genetische Störung handelt, die vererbt werden kann.
Eine Zeitlang waren vor allem Männer mit autistischen Störungen und deutlichen Inselbegabungen im Mittelpunkt der Forschung. Törnvall beschreibt auch den österreichischen Kinderarzt Johann Friedrich Karl Asperger, der autistische Störungen erforscht hat, die dann als Asperger-Syndrom bezeichnet wurden.
Autismus auch bei Virginia Woolf und Greta Thunberg
Clara Törnvall porträtiert prominente Frauen, die an Autismus gelitten haben, ohne dass man es wusste. Virginia Woolf gehörte dazu. Oder sie erzählt von Greta Thunberg und ihrer Unfähigkeit, etwas anderes als die von ihr so empfundene Wahrheit zu sagen. Sie beschreibt die Bedeutung von Gewohnheiten und Ritualen für Menschen, die an Autismus leiden und stellt immer wieder die in unserer Gesellschaft festgelegten Normen, unsere Auffassung von Normalität in Frage:
Nichtautistische Menschen kommen mir zuweilen feige, unehrlich und konfliktscheu vor. Sie sagen nie, was sie denken, stattdessen winden sie sich und machen Andeutungen, bis alle Gespräche verwischen und zerfleddern. (…) Sie reden hinter dem Rücken ihrer Freunde schlecht über diese und sind völlig besessen davon, was andere von ihnen denken. Sie leugnen die Wahrheit. Sie brechen Versprechen (…) Ich weiß, dass von Erwachsenen erwartet wird, zu akzeptieren, dass die Menschen um sie herum flunkern, um die Fassade aufrechtzuerhalten, und dass andere nicht immer meinen, was sie sagen. Leseprobe
Clara Törnvall wirbt für Verständnis und Toleranz
Clara Törnvall hat ein sehr literarisch geschriebenes Sachbuch über Autismus veröffentlicht, das mit Legenden und Mythen aufräumt. Sie erklärt auch den Unterschied zwischen der Beobachtung, dass fast jeder Mensch in sich autistische Züge entdecken kann und einer tatsächlichen Betroffenheit. Sie wirbt mit Klugheit und Charme um mehr Verständnis und Toleranz für die, die ein bisschen anders sind.
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Beitrags wurde Autismus als Krankheit bezeichnet. Autismus ist jedoch eine neurologische Entwicklungsstörung. Wir haben die Stelle korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.
Die Autistinnen
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Zusatzinfo:
- Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-4462-8044-1
- Preis:
- 24 €