Anne Webers "Bannmeilen": Gefangen in den Vorstädten von Paris
Die 1964 in Offenbach geborene Autorin Anne Weber lebt seit rund 40 Jahren in Paris. In ihrem neuen Roman "Bannmeilen" hat sie sich auf den Weg durch die berüchtigte Banlieue gemacht.
Paris hat Anne Weber von Anfang an in den Bann gezogen; besonders Dichte und Verschiedenheit der Bevölkerung haben sie fasziniert: "Ich weiß noch, dass ich anfangs Metro gefahren bin, stundenlang, und auch die verschiedenen Begegnungen, die möglich waren, die fremde Sprache, überhaupt dieses Fremdsein in einer Welt." Das sei beängstigend, aber gleichzeitig schön gewesen, sagt Anne Weber. Jetzt hat sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht, zusammen mit ihrem Freund Thierry, dessen Vater aus Algerien stammt. Hunderte Kilometer sind sie durch die Vorstädte gelaufen, die berüchtigte Banlieue. Hier ist auch Anne Weber nie zuvor gewesen:
Der Vorstadtbahnhof liegt direkt neben einer Autobahn, der A 86 (...) In einem Winkel der Bahnhofsfassade hat sich ein Obdachloser ein Haus aus allen möglichen Materialien gebaut, vorzüglich aus Plastikplanen, auch ein Teddybär ist zu sehen und Geschirr, aber nicht der Bewohner. Wir nehmen die Rue Honoré de Balzac, die sich ehrenwerter anhört als sie aussieht. Leseprobe
Eine fremde Welt voller Müll und Drogen
"Le neuf-trois", das Neun-Drei werden die nordöstlichen Vorstädte wegen ihrer mit 93 beginnenden Postleitzahl genannt. Thierry ist hier aufgewachsen und lebt immer noch in einer der Vorstädte. Er ist Dokumentarfilmer und plant einen Film über die Auswirkungen von Olympia auf diese Gegend, doch dieser Gedanke tritt während der Streifzüge immer mehr in den Hintergrund. Es ist eine fremde Welt, die Anne Weber und Thierry sich erlaufen: durchschnitten von mehrspurigen Straßen, geprägt durch gigantische, oft abbruchreife Wohnblocks, viel Leerstand, Müll, Berge von Müll und wenig Menschen, meistens Männer. Die Arbeitslosenquote ist hoch, der Drogenhandel floriert. An vielen Hausecken sitzen sogenannte "chouffeurs", Späher, die Alarm schlagen, sobald die Polizei auftaucht - jeweils mit einem langgezogenen Ton:
Es ist ein Chor, ein Kanon, ein Echoraum, der da entsteht. Der Vergleich scheint mir absurd, aber ich muss an Alphörner denken, die einander über ein Tal antworten. Leseprobe
Wer ist "Franzose" oder "Französin"?
Ich freue mich jedes Mal darauf, hierherzukommen, diese Menschen wiederzusehen, an diesem einzigartigen Zufluchtsort zu verweilen, ohne den (...) einige der Bewohner dieses Viertels vielleicht schon an Einsamkeit und Trübsal gestorben wären. Leseprobe
Die offensichtliche Trostlosigkeit und Perspektivlosigkeit, in der viele der in den Vorstädten Lebenden gefangen sind, die Kriminalität, sind das eine. Dahinter stehen Jahrzehnte verfehlter Sozial- und Integrationspolitik, bis heute nicht aufgearbeitete historische Hypotheken: Zehntausende jüdische Gefangene wurden von hier während der deutschen Besatzung nach Auschwitz-Birkenau deportiert, viel schwerer noch wiegt die französische Kolonialherrschaft, der Algerienkrieg. Er ist auch in den Gesprächen, die Anne Weber und Thierry miteinander führen, immer präsent. Wer ist "Franzose" oder "Französin"? Ein Pass reicht nicht.
Das vielschichtige Bild einer komplexen Gesellschaft
Jedes Kapitel des sich allmählich aus den Streifzügen entwickelnden Romans liest sich wie eine Reportage, wörtlich gibt die Autorin teilweise Gespräche wieder. Nach und nach entsteht das vielschichtige Bild einer komplexen, von tiefen Gräben durchzogenen Gesellschaft. Ende offen. Dort, wo in "Neun Drei" Teile des Olympischen Dorfes entstehen, wurden die Bewohner übrigens ausquartiert:
Da sie keine Aussicht auf Papiere haben, werden sie sich ein anderes Schattenloch suchen, (...) bis zum letzten großen Schatten, dem einzigen, der uns alle gleichmacht, besser als jede Revolution. Leseprobe
Bannmeilen - Ein Roman in Streifzügen
- Seitenzahl:
- 301 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Matthes & Seitz Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-7518-0955-9
- Preis:
- 25 €