Cover: Elif Shafak, "Am Himmel die Flüsse" © Hanser Verlag

"Am Himmel die Flüsse": Roman über die Flüchtigkeit menschlichen Daseins

Stand: 09.08.2024 06:00 Uhr

Elif Shafak ist eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. In ihrem neuen Roman "Am Himmel die Flüsse" ist mit einer ungeheuren Fabulierlust geschrieben, in einem lyrischen, fast märchenhaften Ton.

von Peter Helling

Mit einem Tropfen beginnt es.

Jahrzehnte, wenn nicht Jahrtausende, war er unter der mit Fossilien durchsetzten Erde verborgen, bis er zum Himmel aufstieg und als Dunst, Nebel, Monsun oder Hagelschauer zurückkam, ewig vertrieben und umgesiedelt. Wasser ist durch und durch Immigrant, es ist gefangen im Übergang und kann sich nirgends für immer niederlassen. Leseprobe

Ein Regentropfen im Haar eines assyrischen Königs um 600 vor Christus - ein Tropfen, der einen Sturm ankündigt. Ein Sturm, der viele Jahre später Assurbanipals berühmte Bibliothek, seinen Palast, seine Stadt Ninive zerstören wird.

Derselbe Tropfen wird ein paar Seiten und Jahrhunderte weiter zu einer Schneeflocke im Jahr 1840 - die am Ufer der müllverseuchten Themse in London einem Neugeborenen in den Mund fällt. Und ihn einen Lebtag sagen lassen wird, Schnee schmecke wie Muttermilch. Arthur wird einer der wichtigsten Ausgräber der Bibliothek Assurbanipals, wird das älteste Gedicht der Menschheit, das Gilgamesch-Epos, wiederentdecken.

Hat Wasser ein Gedächtnis?

Werden, Vergehen, der ständige Wandel. Das Motiv des Wassers sickert durch die Zeilen und Zeiten, durch die Jahrhunderte, verbindet die Erzählstränge. Wie die Geschichte einer Wasserforscherin, die auf einem Hausboot auf der Themse wohnt, 2018: Sie untersucht das Phänomen, dass Wasser ein Gedächtnis haben soll - ihre Eltern wurden am Tigris von einer Flutwelle weggespült. Sie kommt über das Kindheitstrauma nicht hinweg.

Jetzt will sie sich nur noch zurückziehen und als eine, die es satthat, ständig ums Überleben zu kämpfen, stillschweigend kapitulieren. Es wird weniger ein Weggang sein als eine Heimkehr, eine Rückkehr zum Wasser. Leseprobe

Und schließlich? Das Jahr 2014, in der türkischen Stadt Hasankeyf - dort wird der Tigris aufgestaut und ausgerechnet das Grab jenes Arthur aus London überflutet. Es ist der Ort der erschütterndsten Geschichte des Romans: der eines jesidischen Mädchens und seiner Großmutter. Für ein Taufritual wollen sie in den Irak reisen und fallen den Mördern des sogenannten "Islamischen Staates" in die Hände.

Narin windet sich in entsetzlichen Schmerzen. Schnell wie der Flug der Schwalbe schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihre Großmutter wiedersieht, wenn sie jetzt stirbt. Ein warmes Becken öffnet sich unter ihr, und sie lässt sich in die flüssige Ruhe gleiten. Leseprobe

"Am Himmel die Flüsse": Ein großartiges Buch

Elif Shafak schreibt über die Flüchtigkeit menschlichen Daseins und menschlicher Ambitionen, mit einer ungeheuren Fabulierlust, in einem lyrischen, fast märchenhaften Ton. Arthur, der Assyriologe aus ärmsten Verhältnissen, ist der historischen Figur George Smith nachempfunden. Mit ihm tauchen wir ein in das viktorianische London, erleben hautnah, wie die Entdeckung der Keilschrift für den Jungen zum Weg hinaus aus dem Elend wird. Hin zum Tigris, dem Ursprung der Schrift, der Kultur, im heutigen Irak.

Jeder Erzählstrang ist von einem brutalen Ereignis geprägt - Mord, Verrat, kulturelle Auslöschung. Das Wasser, scheint Elif Shafak sagen zu wollen, löscht diese Traumata nicht aus, sondern trägt sie weiter durch die Zeit, verwandelt sie aber. So gelingt es der Autorin bravourös, Literatur und Wasser als verwandte Elemente darzustellen, die jede Möglichkeit des Daseins in sich tragen.

Der Völkermord an den Jesiden jährt sich gerade zum zehnten Mal. Dort wird der Regentropfen vom Anfang zur winzigen Ration Wasser, die die Großmutter ihrer Enkelin bei der Flucht vor dem "IS" in den Mund träufelt. Und die uralte Stadt Hasankeyf ist längst im Stausee versunken. Ein tieftrauriges, ein großartiges Buch.

Am Himmel die Flüsse

von Elif Shafak
Seitenzahl:
592 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Verlag:
Hanser
Bestellnummer:
978-3-446-28008-3
Preis:
28 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 09.08.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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