NDR Buch des Monats Februar: "Sibir" von Sabrina Janesch
Sabrina Janesch erzählt in "Sibir" eine deutsche Aussiedler-Geschichte. Josef wird erst nach Sibirien verschleppt und reist später nach Westdeutschland aus. Zugleich ist der Roman eine Liebeserklärung an die Familie.
Leila und Arnold wohnen in einer Siedlung, in der die meisten Kinder allein zurechtkommen müssen. Auf die Erwachsenen ist kein Verlass.
"Am östlichen Stadtrand wohnten beinahe ausschließlich Menschen (...), die nicht lange an ein und demselben Ort sitzen konnten, unter Schlafstörungen litten oder Angst hatten vor Stimmengewirr, der Stille, der Erinnerung, Zügen, Kellern und dem Winter (...). Die dunkle Jahreszeit erzwang eine Einkehr, der niemand gewachsen war." Leseprobe
Die Erwachsenen hatten elende Jahre in Sibirien hinter sich, bevor sie ausreisen durften. Ihre Familien gehörten ursprünglich zur deutschsprachigen Bevölkerung in Galizien oder an der Wolga. Leilas Vater Josef war vielleicht zehn Jahre alt - als er mit den Großeltern in Sibirien ums Überleben kämpfte. Vor allem musste er seine unterwegs verschollene Mutter finden. Er freundet sich mit dem kasachischen Jungen Tachawi an. Beide haben einen scharfen Blick, wenn es etwas zu entdecken gibt, wie - bei minus 50 Grad - im Flug erfrorene Krähen, die sie einsammeln und zu Hause zum Kochen abliefern. Wenn Josef in Not gerät, bekommt Tachawi Wind davon.
"Das lange Ohr der Steppe: Das waren die Gerüchte, die Erzählungen und die Geschichten, die hier schneller die Runde machten als sonst irgendwo. Sie flogen, so schien es, mit dem Wind, dem sich nichts entgegenstellte." Leseprobe
Streifzüge nach der Schule
40 Jahre später erzählt Josef seiner Tochter davon. Seine Frau kann die Geschichten nicht mehr hören, Leila dagegen möchte am liebsten in ihren Vater reinkriechen. Obwohl sie weder hungern, noch frieren muss, macht sie manch ähnliche Erfahrung wie er. Drinnen fällt ihr die Decke auf den Kopf - bloß raus.
Das Wichtigste ist die Freundschaft zu Arnold; sie stärken sich gegenseitig auf ihren langen Streifzügen nach der Schule. Zusammen sind sie in den Keller vom Tartter eingebrochen. Der Vater hatte gesagt, das war ein SS-Mann. Und jetzt finden sie neben seiner alten Uniform auch einen Beutel mit Zahngold. Sie nehmen ihn mit.
"Sibir": Über Stärke und das Gefühl, nirgends zu Hause zu sein
Sabrina Janesch erzählt abwechselnd vom Aufwachsen in Niedersachsen und in Sibirien. Obwohl die Szenen deutlich voneinander getrennt sind, scheinen sie sich manchmal zu vermischen. Als sei Leila gegen die Kälte mit einem Wolfsfell zugedeckt worden und nicht ihr Vater. Das ist keine verwirrende Leseerfahrung: Es zeigt vielmehr, wie subtil Sabrina Janesch erzählt, was von einer Generation auf die nächste abfärbt. Dazu gehört das Gefühl, nirgends zu Hause und sicher zu sein, aber auch die Stärke, mit Bedrohungen fertig zu werden.
Sabrina Janeschs Liebeserklärung an die Familie
Bei der Ankunft in Niedersachsen wurde Josef von einem der Alten gedrängt, keine Briefe mehr an den Freund in Sibirien zu schreiben.
"Der Blick nach hinten macht dich kaputt. Du musst vergessen, was war, wer war. Breche mit dem Alten, gehe hin zum Neuen. In der Vergangenheit liegt nichts Gutes für Dich." Leseprobe
Josef versucht, den Rat anzunehmen, um zur Ruhe zu kommen. Er verbrennt alles, was an früher erinnert - und bereut es später. Jetzt ist es Leila, die inzwischen erwachsene Ich-Erzählerin, die jedes Fitzelchen Erinnerung zusammen trägt. Sabrina Janesch hat eine Liebeserklärung an die Familie geschrieben, die weit über das einzelne Schicksal hinausreicht. Wir verdanken ihr einen erschütternden, unbedingt lesenswerten Einblick in ein Leben, über das die meisten Aussiedler geschwiegen haben.
Sibir
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 31. Januar 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-7371-0149-3
- Preis:
- 24 Euro €