Spielzeug-VW-Bulli auf einem Globus. © colourbox Foto: Deyan Georgiev

Zuhause bleiben und doch unterwegs sein: Mit Reise-Literatur

Stand: 12.08.2023 15:05 Uhr

Schon Homer erzählte 800 vor Christus mit seiner "Odyssee" eine Abenteuergeschichte als scheinbar endlose, fantastische Irrfahrt - quasi eine Urgeschichte des Reisens. Bis heute gehen literarische Figuren freiwillig oder unfreiwillig auf Reisen - und wir mit ihnen.

Spielzeug-VW-Bulli auf einem Globus. © colourbox Foto: Deyan Georgiev
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von Juliane Bergmann

Salzige Luft, Geschaukel, 138 Tage auf hoher See. Der talentierte, indonesische Maler Raden Saleh darf, was 1829 nur wenige dürfen: auf Reisen gehen. Hohe niederländische Kolonialbeamte schicken ihn nach Europa, damit er als ausgebildeter Kolonialmaler zurückkehrt.

Die Architektur. Die Sprache. Das Wetter. Die Art, wie die Leute sich auf der Straße bewegten. Überhaupt die Straßen, die Kleidung, das Licht, die Gerüche. Der Humor, das Essen. Ja, das Essen. Und wieder das Wetter, und wieder das Licht. In allem, aber wirklich in allem, unterschied sich Antwerpen von Semarang. Leseprobe aus: "Eine runde Sache"

Nicht ganz freiwillig ist diese Reise, die der Protagonist antritt - in Tomer Gardis 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnetem Roman "Eine runde Sache". Und doch wächst der Künstler an den Eindrücken, er emanzipiert sich immer mehr vom Pflicht-Programm, lernt lieben und genießen.

Ganz anders der Reisende in der anderen, surreal-satirischen Hälfte des Buches: Der findet sich wieder als menschliche Zielscheibe bei einer "Jagd", statt als Gast auf einer luxuriösen "Yacht", ein blödes, phonetisches Missverständnis, aus dem (ganz nebenbei) auch Zauberhaftes entsteht. Denn der tollpatschige Held erkennt, dass eben nichts im Leben von Dauer ist:

Alles bewegt sich und dreht, ändert sich ständig, wieder und wieder. Nichts ist stabil, nichts bleibt wie es ist, und auch ich nicht. Und ich, ich wähle Erfindung. Fabulieren. Fantasie. Die wunderbare Lüge. Leseprobe aus: "Eine runde Sache"

Die vielfältige Motivation zu reisen

Wenn wir reisen, suchen wir - bewusst oder unbewusst - das Andere, das Unerwartete, das Unplanbare. Und überraschen dabei auch uns selbst. Nicht nur Neugier und Erkenntnisgewinn können den Anstoß für einen Aufbruch geben, auch die dunklen Wünsche des Menschen: Eroberung, Gier, Hass. Wenn zum Beispiel Jules Verne seinen wettgierigen Phileas Fogg vergeblich "In 80 Tagen um die Welt" hetzen lässt. Wenn Jonathan Swifts berühmter Gulliver im Land der Riesen oder Zwerge vor lauter Überheblichkeit seine eigene Zivilisation für die einzig wahre hält. Oder wenn Hermann Melvilles rachedurstiger Kapitän Ahab seinen früheren Angreifer Moby Dick durch die Meere jagt: "Bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir, dem Haß zu liebe spei' ich meinem letzten Hauch nach dir." Nicht immer findet der Reisende Erfüllung, geschweige denn sein Glück.

Gefühle sind kein Urlaubsmitbringsel

Reisen heißt Bewegung, die Dinge entwickeln und verändern sich, geraten in Fluss oder aus den Fugen - die Grundidee des Erzählens an sich. Kein Wunder also, dass in fast jedem Roman gereist wird: "Im Nachtzug nach Lissabon", per Lada in "Tschick" oder in Sibylle Bergs "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand": "Ich wünsche mir etwas, das ich nicht schon hundertmal erlebt habe", denkt die Mittvierzigerin Chloe. Stumm arrangiert hat sich diese Figur mit ihrer leidenschaftslosen, zwanzigjährigen Partnerschaft. Der Ausweg: die Reise in eine tropische Region. Chloe verliebt sich in ihren sexy Thai-Masseur und nimmt ihn mit nach Hause. Wir wissen ja: Kein Mitbringsel kann Gefühle konservieren. Das gilt für Urlaubsweine, das gilt für Urlaubsflirts. Spannende Lektüre liefert Bergs Dreiecksbeziehung aber dennoch. Der Langzeitpartner ist alarmiert: "Leckt mich alle am Arsch. Ich gehe nach Hause und denke bewusst: Nach Hause, und denke bewusst: Da, wo meine Frau eine Affäre hat."

Reisen ohne fortzusein

Und wer gerade nicht die Chance hat aufzubrechen, für den hat Xavier de Maistre 1794 das Genre der Zimmer-Reisen erfunden. Wegen eines unerlaubten Duells wird ein junger Offizier 42 Tage unter Hausarrest gestellt. Er betrachtet um sich herum die Alltagsgegenstände, Erinnerungsstücke, Bilder an der Wand, Möbel und "schreitet von Entdeckung zu Entdeckung":

Wenn du, lieber Leser, so unglücklich und verlassen bist, dass du keinen Zufluchtsort mehr hast, wohin du dich zurückziehen und vor aller Leute Augen verbergen kannst, dann sind alle Vorbereitungen zur Reise getroffen. Leseprobe aus: "Die Reise um mein Zimmer"

Empfehlungen aus der Redaktion

  • Jürgen Deppe empfiehlt "Emil und die Detektive" von Erich Kästner
  • Anna Hartwich empfiehlt "Reise um mein Zimmer" (1795) von Xavier de Maistre
  • Alexander Solloch empfiehlt "1001 Nacht" in der Übersetzung von Claudia Ott

aufgeschlagene Bücher © panthermedia Foto: Harald Richter
AUDIO: Bücherschwerpunkt: Reisen - Kollegen empfehlen | Teil 1 (3 Min)

  • Katja Weise empfiehlt "Madita" von Astrid Lindgren
  • Joachim Dicks empfiehlt "Die Blendung" von Elias Canetti
  • Maren Ahring empfiehlt "Dalee" von Dennis Gastmann

aufgeschlagene Bücher © panthermedia Foto: Harald Richter
AUDIO: Bücherschwerpunkt: Reisen - Kollegen empfehlen | Teil 2 (3 Min)

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Am Morgen vorgelesen | 12.08.2023 | 06:20 Uhr

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Romane

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