Tobi Schlegl über Leid auf Demenzstationen und das Schreiben
Zu Gast in Folge 106 beim NDR Bücherpodcast eat.READ.sleep erzählt Tobi Schlegl von seinen Einsätzen im Rettungswagen, auf der Pflegestation und warum Schreiben für ihn ist wie Netflix-Gucken.
Erst Moderator, dann Rettungssanitäter und seit einiger Zeit auch Buchautor: Tobi Schlegl war mit seinem neuen Roman "Strom" zu Gast bei eat.READ.sleep. Dort erzählt er von seiner Arbeit auf der Demenzstation und dem Leid, dem die Pflegekräfte dort ausgesetzt sind. Er sagt: "Verrückt - du machst eine dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter und entdeckst die Leidenschaft des Schreiben für dich". Die Hosts Katharina Mahrenholtz und Daniel Kaiser sprechen mit Schlegl über seine vielfältigen Einsatzgebiete, Leben und Tod und seine aktuellen Bücher. Er appeliert dringlich: "Leute kümmert euch mehr um die Menschen im Rettungsdienst und um die Menschen in der Pflege!"
Tobi - Du alles gemacht in den Medien. Dann bist du 2016 raus, um Notfallsanitäter zu werden. Warum?
Schlegl: Weil sich das über Jahre aufgebaut hat. Ich mache das seit 20 Jahren, ich stelle Fragen, treffe interessante Leute, und ich habe mich gefragt: Was mache ich eigentlich selbst Interessantes?. Ich brauchte einen neuen Impuls. Ich wollte etwas sehr, sehr Relevantes machen. Was gibt es Relevanteres, als in diesem Scharnier zwischen Leben und Tod zu agieren und ein Puzzlestück bei einer Lebensrettung zu sein? Deshalb habe ich radikal den Schnitt gemacht; habe gekündigt bei der Kultursendung "Aspekte" im "ZDF" und habe diese dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter gemacht.
Du bist aber trotzdem immer noch im Journalismus tätig geblieben. Das heißt, das war eine Recherche für weitere journalistische Produkte, für Interviews, für Begegnung für Bücher, oder?
Schlegl: Diese Recherche würdest du nicht drei Jahre durchhalten. Da ging es um Leben und Tod. Da habe ich mich ganz in den Dienst gestellt und war Gott sei Dank auch oft Teil einer Lebensrettung. Ich wurde aber auch mit schrecklichen Dingen konfrontiert. Wenn man im Blaulichtbereich arbeitet, weiß man, dass da etwas auf einen zukommt. Aber man weiß nicht, wie viele Reanimationen nicht mehr funktionieren. Wie sehr man Menschen gehen lassen muss. Wie sehr man sich mit dem Thema Tod plötzlich auseinandersetzen muss.
Das hat mich schon sehr schockiert. Ich war auch in der Mitte der Ausbildung irgendwann so weit, da ging es mir überhaupt nicht mehr gut. Ich habe da nicht mehr funktioniert und brauchte psychologische Unterstützung. Da hat ein Kollege auf mich aufgepasst und hat für mich das Kriseninterventionsteam gerufen. Die setzen sich nach plötzlichen Todesfällen für Angehörige, für Betroffene ein, oder auch für Einsatzkräfte. Ich konnte mir das alles von der Seele reden, stundenlang.
In dem Moment habe ich gedacht: "Was wäre eigentlich passiert, wenn mir keiner auf diesem düsteren Weg geholfen hätte?" Das habe ich durchgespielt. Da kam die Idee, das zu verschriftlichen.
Ich habe vorher schon Tagebuch geführt, um bestimmte Einsätze aus meinem Kopf zu kriegen - so eine Art Therapie. Aber dann habe ich mich rangesetzt und nach der Nachtschicht morgens noch geschrieben - oder umgekehrt - nach der Frühschicht abends. Das hat mir gutgetan. Verrückt: Du machst eine Ausbildung zum Notfallsanitäter und entdeckst die Leidenschaft des Schreibens für dich.
Das Buch heißt "Schockraum". Wie schwierig war es, dieses "Von-der-Seele-Schreiben" mit einer Geschichte zu verbinden?
Schlegl: Das fand ich gar nicht so schwierig. Ich sitze täglich von 9 bis 15 Uhr am Laptop, wenn mich keiner stört. Das ist wie Netflix-Gucken für mich. Ich gucke zwar nicht Netflix, aber es passiert in meinem Kopf. Diese Protagonisten entwickeln ein Eigenleben, ich schreibe das nur noch auf. Ich freue mich jeden Tag aufs Neue, wenn ich mich hinsetze: "Ach ja, was geht denn wieder ab in meinem Kopf?" Ich muss das nur aufschreiben. Das ist wie ein Rausch gewesen.
Du bist vorher Moderator beim Fernsehen gewesen. Das ist ein anstrengendes, aber auch ein bequemes Leben. Dann bist du radikal rausgegangen: aus der Komfortzone in Extremsituationen. Hast du nicht überlegt: "Ach, es war so schön im "Aspekte"-Studio?"
Schlegl: Ja natürlich. Rettungsdienst besteht auch zum Teil daraus: Man macht Türen auf und weiß nicht, wo man da landet. Bestimmte Wohnungen riechen auch nicht gut und sehen auch nicht gut aus. Da willst du sofort wieder raus, aber du hast einen Job zu tun. Wenn du im Dreck auf der Autobahn kniest und machst Reanimation - das ist natürlich keine Komfortzone.
Aber zum Beispiel gab es diesen Fall auf der Autobahn: Da haben wir einen 40-jährigen Mann reanimiert. Wir haben ihn unter Reanimationsbedingungen in die Klinik gefahren. Ich war über ihm und habe die ganze Zeit gedrückt. Dann kam er in den OP. Zwei Wochen später kam ein Arzt von diesem Krankenhaus und meinte: "Komm mal mit". Ich durfte die Intensivstation besuchen. Dieser Mann lag da, konnte nur halb sprechen und wollte die kennenlernen, die ihn gerettet haben.
Ich stand vor dieser Tür und wusste: "Wenn ich da jetzt reingehe, das wird ein ganz wichtiger Moment in meinem Leben - vielleicht der allerwichtigste". Ich bin durch diese Tür, er konnte nicht viel sagen. Er hat mehr so meine Hand gedrückt, hat die auch nicht mehr losgelassen: Das war so ein berührender Moment. Für genau diesen Moment hat sich all das gelohnt. Das nimmt mir keiner mehr.
Wieviel Autor und wieviel Sanitäter ist in Dir?
Schlegl: Ich mag so eine fifty-fifty Mischung ganz gern. Dieses Gleichgewicht der Dinge. Würde ich diesen Job hundert Prozent durchziehen, wäre ich - wie viele Kollegen - nach zwei, drei Jahren ausgebrannt. Meine Chance ist, das in einem reduzierten Maß auszuüben. Das ist ein schöner Gegensatz: Du hast diese zeitkritische Blaulicht-Welt und das Zeitlose des Schreibens. Diese Welten können sich auch noch berühren.
Ich will primär eine spannende, dramatische, berührende Geschichte erzählen. Aber zwischen den Zeilen steckt ordentlich Kritik am System. Ich will ein bisschen aufrütteln. Gerade diese Zeit auf der Demenzstation. Das war ein ganz einschneidender Bereich mit sehr eigenwilligen Patienten und sehr berührend. Aber man wird auch viel mit Leid und Tod konfrontiert. Da hast du Situationen, wo du merkst, es ist gerade wieder einer verstorben, oder du willst eine Sterbehilfe leisten, kannst es aber nicht, weil eben andere Patienten Bedarf haben.
Das ist schlimm für die Leute, die da in der Pflege arbeiten. Da gibt es nicht so etwas wie Supervision, dass man sich mit einem Psychotherapeuten hinsetzt und sich das von der Seele Quatschen kann. Das finde ich immens wichtig, dafür will ich einstehen. Ich will immer wieder sagen und aufrütteln: "Leute kümmert euch mehr um die Menschen im Rettungsdienst und um die Menschen in der Pflege!"
Thema Hörbücher: Du hättest deine Bücher selbst einlesen können, das hast du aber nicht gemacht.
Schlegl: Ne, ich hätte es gemacht. Aber ich habe einen Sprecher, den ich über alles liebe und mit dem ich natürlich auch einschlafe: Oliver Rohrbeck …
Das ist Justus Jonas von den drei Fragezeichen!
Schlegl: Genau - und ich habe ihn gefragt, ob er "Schockraum" und auch "Strom" lesen will. Er hat 'ja' gesagt, das war meine Nummer eins. Das Besondere dabei ist: Man gibt, wie beim Film, die Sachen aus der Hand. Der Stoff wird neu interpretiert. Diese Romane haben einen Soundtrack. Immer wieder kommen Songzitate darin vor: "Sweet Dreams Are Made Of This" oder "Billy Jean Is Not My Lover". Oliver Rohrbeck hat dann angefangen zu singen - mit voller Leidenschaft. Als er "Schockraum" eingelesen hatte, hat er mich danach angerufen und gesagt: "Ich komme gerade aus der Sprecherkabine. Ich habe es gerade eingelesen. Mein Gesicht ist noch nass, weil ich geheult habe."
Dein aktueller Roman "Strom" spielt auf einer Demenzstation. Frank, ein Pfleger, berauscht sich an Wiederbelebung ...
Schlegl: Das ist sozusagen der düstere fiktionale Twist. Ich habe auf der Demenzstation gearbeitet, habe aber natürlich Gott sei Dank keinen wie Frank kennengelernt - einen Pfleger, der zum Täter wird, der diesen Rausch des Rettens braucht, der auch diese Anerkennung braucht, wie eine Droge. Aber ich habe andere Pfleger kennengelernt. Mir war bei "Strom" wichtig, dass es Frank gibt - diesen Täter, diese Dramatik.
Aber es gibt auch zwei andere Protagonisten: Nora und Didi, die sich vehement für die Patienten einsetzen. Für mich war es eine totale Weiterentwicklung zu "Schockraum". Das ist ja eine Ich-Perspektive gewesen. Jetzt habe ich plötzlich drei Protagonisten. Ich wollte ein bisschen von mir weggehen. Da sind viele eigene Erfahrungen drin. Aber ich habe drei Handlungsstränge, die miteinander verwoben werden. "Schockraum" ist ein bisschen für mich der kleine Bruder - "Strom" ist die große Schwester.