"The World of Music Video": Bildband über die Welt der Musikvideos
Musikvideos sind nach wie vor wichtiger Bestandteil der modernen Musik-Branche. Inzwischen ist das Internet ihre Bühne. Der Bildband "The World of Music Video" untersucht das Phänomen.
Eine junge Frau mit fluffiger Föhnfrisur sitzt in einem Diner der 80er-Jahre. Sie verliert sich in ihrem Comic. Dessen Held, ein hinreißend-charmanter Motorradfahrer, zwinkert ihr herausfordernd zu. Ihre reale und seine gezeichnete Welt verschmelzen.
Wie entscheidend ein Musikvideo für den Erfolg eines Songs sein kann, zeigt "Take On Me" des norwegischen Pop-Trios A-ha. Zwei Single-Veröffentlichungen floppen zunächst. Erst als Regisseur Steve Barron 1985 das ikonische Video produziert, wird das Lied international zum Hit. Damals eine technische Innovation. Film-Aufnahmen wurden per Rotoskopieverfahren quasi abgepaust. Über einen Zeitraum von 16 Wochen entstanden 3.000 Zeichnungen.
Peter Gabriels "Sledgehammer": Spektakuläre Animationstechniken
Das Thema dieses Bildbandes ist großartig: Alle, die in Zeiten von MTV und VIVA aufgewachsen sind, haben Erinnerungen an das ein oder andere Musikvideo. Das Stöbern macht Spaß. Unvergessen - und in seiner Schlüpfrigkeit von vielen sicher nur halb verstanden - bleibt der geniale Clip "Sledgehammer", in dem Peter Gabriel 1986 als Knetfigur umgeben von Dampflok, geköpften Hühnern und lachendem Autoscooter in einem Metaphern-Feuerwerk Sex besingt.
"So konsequent, künstlerisch schlüssig und spektakulär wie hier waren sie bis dahin nicht eingesetzt worden", schreibt der Musikjournalist Ernst Hofacker im Buch über die Animationstechniken. "Das Ergebnis war atemberaubend: Als sich ein Großteil der Konkurrenz noch damit zufrieden gab, für ein Video die Performance der Musiker:innen abzufilmen, demonstrierte 'Sledgehammer' souverän und mit Witz, was in diesem Medium möglich war."
Die hier vorgestellten Musikvideos dienen nicht bloß als Untermalung von Songs - sie sind eine Kunstform für sich, sie erzählen Zeitgeschichte.
Großartiges Thema - enttäuschende Aufmachung
Das Buch stellt spannende Beziehungen her: Immer wieder wird es politisch in Musikvideos. Während David Bowie 1997 panisch rennend einen Verfolger abschütteln will - er habe Angst vor Amerikanern - da treibt es 20 Jahre später Donald Glover alias Childish Gambino mit seiner Amerika-Kritik verstörend auf die Spitze: In "This Is America" wechselt er hin und her zwischen seiner Rolle als Tänzer und Amokläufer.
In der Aufmachung ist der Bildband allerdings eine Enttäuschung. Stumpfes Papier, auf dem die Farben blass erscheinen. Kleine, maximal postkartengroße Bilder, die den visuellen Eindruck vollkommen abschwächen. Und manchmal fehlen die Musikvideo-Ausschnitte sogar komplett. Das mag rechtliche Gründe haben, ist aber mehr als bedauerlich. Die musikwissenschaftlichen Essays sind interessant, keine Frage. Doch der Bildband hätte eine eigene ästhetische Interpretation der Videokunst wagen sollen.
Cross-Over-Ausflüge in die bildende Kunst
Was dem Buch hingegen gelingt: Es regt an zur berauschten, digitalen Video-Suche. Mit tollen Entdeckungen, darunter Cross-Over-Ausflügen in die bildende Kunst. Schmunzeln kann man zum Beispiel über Joseph Beuys‘ schief gesungenes "Sonne statt Reagan" von 1982. Zwei Jahre später hat Andy Warhol Regie geführt und ist selbst aufgetreten im Musikvideo "Hello Again" von The Cars, das die Sexualisierung der Gesellschaft anprangert und bezeichnenderweise dank nackter Körper zensiert wurde. Und zur Musik der brasilianischen Funk-Truppe Heavy Baile tanzt ein Mann während der Corona-Pandemie durch die Landschaften der Gemälde, die im New Yorker Met hängen.
Ein Highlight: das rückwärts abgespielte Video zu "Kolschik". Darin kommentiert die Ska-Band Leningrad im Jahr 2017 mit Bildern eines brutal-blutigen Zirkusabends die Machenschaften der russischen Regierung. Aktueller denn je.
The World of Music Video
- Seitenzahl:
- 448 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5190-2
- Preis:
- 58 €