Robert Musil: "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß"
In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß".
Von Hanjo Kesting
Über den jungen Törleß, den Helden von Robert Musils Roman, hat Walter Jens gesagt, er sei "der erste moderne Mensch in der deutschen Literatur", Thomas Manns Hanno Buddenbrook oder Rilkes Malte Laurids Brigge um ein halbes Jahrhundert voraus. "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" waren das Debütwerk Robert Musils, geschrieben mit 25 Jahren, und der Autor, ein gelernter Ingenieur, beschrieb darin seine eigenen Erfahrungen in einer österreichischen Kadettenanstalt. Es ging weniger um die Enthüllung realer Geschehnisse, so bestürzend sie auch sein mochten, vielmehr um ihre genaue Analyse, fast im Sinne seines Zeitgenossen Sigmund Freud: um die Beweggründe von Grausamkeit, Sadismus und Lust an menschlicher Erniedrigung.
Der Törleß gehört zu den klassischen Schulromanen der deutschsprachigen Literatur, neben Heinrich Manns fast gleichzeitigem "Professor Unrat" und Hermann Hesses frühem Roman "Unterm Rad". Die Befindlichkeit Jugendlicher wird darin in einer für Musil kennzeichnenden, reflexionsgesättigten Weise beschrieben und analysiert: ihre Isolation und Verlorenheit, die quälende Sexualität, die sadistisch und masochistisch bestimmten Beziehungen, die schwelende Gewalttätigkeit, aber auch - am Beispiel der Titelfigur - die Neigung zu metaphysischer Grübelei. Der Autor schildert gruppendynamische Prozesse, die überall und bis heute wirksam sind.
Herausfordernde Radikalität des Autoren
Musils Hauptthema war die rationalistische Ergründung des Irrationalen, vor dem Hintergrund der zerfallenden Donaumonarchie. Dem Land Kakanien, wie er sie nannte, hat er in seinem Hauptwerk "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ein monumentales Denkmal gesetzt. Durch dieses Buch, eines der großen Romanexperimente des 20. Jahrhunderts, ist Musil berühmt geworden. Doch ist es eher ein schattenhafter Ruhm, dem keine Leseerfahrung beim breiten Publikum entspricht. "Mein Ruf ist der eines großen Dichters, der kleine Auflagen hat", schrieb Musil über sich selbst. Der Satz ist bis heute gültig geblieben. Was den großen Erfolg verhinderte, war die herausfordernde Radikalität dieses Schriftstellers, die Totalität seiner Problemstellung, die Prägnanz seiner Sprache und die Schärfe seines Blicks. "Monsieur le vivisecteur" hat sich bereits der 18-jährige Musil genannt. Er schaute auf die entzauberte Welt aus jener "gewissen Perspektive, die nur kennt, wer 100 Meter Eis über sein Auge gelegt hat".
Langes Warten auf die Veröffentlichung
Auch der Debütroman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" musste lange auf eine Veröffentlichung warten. Das fertige Manuskript wurde von mehreren Verlagen nach rascher Prüfung abgelehnt. Nur Alfred Kerr, der gefürchtete Theaterkritiker, dem Musil das Manuskript vorgelegt hatte, zeigte sich begeistert. Und er vermittelte es an einen Wiener Verlag, der es 1906 publizierte. Kerr rezensierte den Roman sofort nach Erscheinen spaltenlang. Selten wurde ein Debütant von ihm mit solchen Lobeshymnen bedacht. Schon die ersten Sätze wirkten wie ein Fanal: "Robert Musil ist in Südösterreich geboren, 25 Jahre alt, und hat ein Buch geschrieben, das bleiben wird. Er nennt es: 'Die Verwirrungen des Zöglings Törleß'".
Die Prognose hat sich bewahrheitet. Der "Törleß" wurde Musils einziger Bucherfolg: Von der später bei Rowohlt erschienenen Taschenbuchausgabe wurde mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft, Übersetzungen in alle wichtigen europäischen Sprachen liegen vor, Schlöndorffs Verfilmung des Buches unter dem Titel "Der Junge Törless" erreichte ein Massenpublikum.
Literarische Prophetie des Dritten Reiches
Im Rückblick aus den Dreißigerjahren empfahl Robert Musil, die "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" als literarische Prophetie des Dritten Reiches zu lesen. Mit den Figuren Beineberg und Reiting, den Klassendiktatoren, habe er Züge der politischen Diktatoren Mussolini und Hitler vorweggenommen; Törleß, die Hauptfigur, sei ein typischer Mitläufer. Parabelhaft seien hier die Mechanismen des Machtmissbrauchs ebenso aufgezeigt wie die menschenverachtende Mentalität von Folterknechten. Wolfgang Koeppen kam zu dem knappen Befund: "Musil berührt, versteckt und offen, gegenwärtige und kommende Schrecken."