Istanbul bei Nacht, 48 © Steidl Verlag Foto: Orhan Pamuk

Orhan Pamuk fotografiert Istanbul bei Nacht: "Orange"

Stand: 30.10.2020 11:09 Uhr

Seit mehr als 60 Jahren lebt Orhan Pamuk in Istanbul - es ist seine Stadt, nicht nur im Leben, auch in seinen Büchern. Doch der Literaturnobelpreisträger ist auch ein passionierter Hobby-Fotograf.

von Lenore Lötsch

Vor einiger Zeit veröffentlichte Orhan Pamuk einen Bildband mit Fotos, die immer wieder das gleiche Motiv zeigten, den Blick von seinem Istanbuler Balkon. Nun ist im Steidl Verlag sein neuer Bildband erschienen: "Orange".

Die moderne kalte Beleuchtung breitet sich aus

Wann war dieser Moment, als das weiße Licht sein Habitat verließ? Wann krochen die kalten Strahlen aus den Krankenhäusern, den Fabriken, den Laboren und den Kühlschränken und verdrängten den orangefarbenen Schimmer, der die Gassen, die Straßen, die Plätze immer eingehüllt hatte? Der wie ein Mond allabendlich aufging, aber nicht wanderte, sondern verlässlich beleuchtete, was sich in seinem Umkreis aufhielt. Eine Erleuchtung, die wie ein Versprechen war, dass hier jederzeit eine besonders melancholische Kinoszene gedreht werden könnte!

Orhan Pamuk kann sich nicht mehr genau an diesen Moment erinnern, als das Orange aus der Stadtbeleuchtung verschwand. Aber wie der Jäger des verlorenen Lichts streift er seit Jahren mit seiner Kamera durch Istanbul und sammelt die vielen kleinen Monde, die noch altbewährt strahlen. Er dokumentiert dabei das Antlitz seiner großen Liebe - und er schaut auch dahin, wo die Fältchen bereits zu Furchen geworden sind.

Aus den alten Laternen strahlt orangefarbenes Licht

Den grellweiß ausgeleuchteten Spätverkauf auf der einen Buchseite. Daneben die Gasse mit den Monoblock-Plastikstühlen und den ausgerichteten Parabolantennen an jedem Haus. Noch beleuchtet die alte Laterne die Szenerie, wie ein Herrnhuter Stern, der da hängt, weil ihn irgendjemand vergessen hat, der zu sehr damit beschäftigt war, die Moderne zu montieren.

Während Pamuk Nacht für Nacht in immer entlegenere Stadtviertel aufbricht, verändert sich Istanbul, und er liefert das Fotoalbum dazu. Zunächst blättert man eilig darüber hinweg, doch dann: Hing eben noch die Wäsche über der Straße, sind es plötzlich Wimpel der Regierungspartei AKP. Auf der nächsten Seite hängen die roten Türkeifahnen kreuz und quer in den Gassen wie buddhistische Gebetsfähnchen.

Nicht nur die Stadt, auch ihre Einwohner haben sich verändert

Auch die Menschen haben sich verändert, fällt Pamuk auf. Im englischen Vorwort des Bildbandes erzählt er davon, dass Frauen und Männer in traditioneller religiöser Kleidung mit Schleiern und Kappen vor 30 Jahren von der Polizei verhaftet worden wären. Verordnet war damals europäische Kleidung. Er zeigt seinen Freunden die Fotos - und die zucken mit den Schultern. Der Autor schreibt im Vorwort:

Es schmerzte und ärgerte mich, festzustellen, dass meine Freunde diese gesellschaftlichen Veränderungen bis jetzt einfach nicht bemerkt hatten. Und es ärgerte mich auch, zu sehen, wie schnell sie sich daran gewöhnten und es ihnen egal wurde. Gerade so, wie sie anfangs das weiße Licht nicht wahrgenommen hatten und sich auch später für seine Ausbreitung nicht interessierten. Leseprobe

Die nächtlichen Fotostreifzüge werden für Pamuk zur Obsession. Das Kabelgewirr an den maroden Häusern, das Warten im Spätverkauf und im Imbiss auf nächtliche Kundschaft, der Müll, die Straßenhändler, die Katzen und Hunde, denen irgendwann in den Morgenstunden die Straßen allein gehören. Keines seiner Fotos würde es in einen Drehständer mit Istanbuler Ansichtskarten schaffen. Kein touristischer Glanz ist hier zu besichtigen, eher schaut man in Istanbuls suspekte, schmuddelige Ecken.

Wahllos und ermüdend wirkt die Menge der Motive

Die Fülle des Buches aber ist auch seine Schwäche: Es erinnert an Dia-Abende eines Fotografen mit einem speziellen Hobby, der immer wieder eine neue Diabox einlegt. Pamuk schafft es nicht, die Menschen zu fokussieren. Sie rennen, sie schauen weg, sie lächeln schief, ihre Gesichter sind mitunter unscharf. So werden sie zur Staffage, man kommt ihnen nicht nah.

Dennoch ist die Geschichte hinter diesen atmosphärisch leuchtenden orangefarbenen Amateur-Schnappschüssen spannend: Orhan Pamuk wird von Nationalisten angefeindet, steht unter Personenschutz, seit sein Freund Hrant Dink 2007 auf offener Straße erschossen wurde. Zunächst wurden Pamuk drei, jetzt noch ein Leibwächter von der türkischen Regierung zur Seite gestellt.

Dieses Wissen macht die Fotografien eindringlicher: eine Leica - ein Mann auf der Suche nach der Poesie und Veränderung seiner Heimatstadt - und ein Beschützer hinter ihm, ohne den diese Suche nicht möglich wäre. Unaufgeregte Fotos, mal melancholisch, mal grell, auf denen Leben gelebt wird und die von einer verlorenen Zeit erzählen.

Orange

von Orhan Pamuk
Seitenzahl:
192 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
350 Abbildungen, Fester Einband / Leineneinband, 17,6 x 25 cm, Englisch
Verlag:
Steidl
Bestellnummer:
978-3-95829-653-4
Preis:
34,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 01.11.2020 | 16:20 Uhr

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