"O Mensch": Lars Eidinger knipst alltägliche Skurrilitäten
Der Schauspieler Lars Eidinger hat einen Blick für die skurrilen, entlarvenden Momente - das beweist er in seinem zweiten Bildband "O Mensch". Mit ihm auf die Reise zu gehen, lohnt auf jeden Fall.
Schlichter kann ein Buch von außen kaum aussehen: Beiger Leineneinband, schwarz darauf der Titel, auf dem Buchrücken dazu noch der Name des Fotografen: Lars Eidinger. Das ist alles. Kein Klappentext, keine Zusatzinformationen. Pur und ja, fast schon arrogant wirkt das. Aber es lenkt eben auch nichts ab von den Fotografien zwischen den Buchdeckeln. Über 250 sind es, das ist eine Menge.
Yoko Tawada ergänzt Eidingers Fotos mit Haikus
Neigung lässt sich nicht
verbergen Uneben ist
der Weg der Sinne
Leseprobe
Die wie Eidinger in Berlin lebende japanische Dichterin Yoko Tawada hat Haikus zu vielen der Fotografien geschrieben, die jedoch nie neben dem Bild stehen, sondern auf den ersten beziehungsweise letzten Seiten des Buches, dort dann auf Englisch. Hier bezieht sie sich auf ein Bild, auf dem ein asphaltierter, sacht abfallender Weg zu sehen ist, an einer Stelle verpflastert mit fünf extrem schmalen Stufen. Für wen?
"Ich kann verstehen, dass man, wenn man diese Bilder sieht, erstmal sagt, das wären Skurrilitäten", sagt Eidinger. "Ich glaube aber, dass das Erschreckende ist, dass es Alltägliches ist, was wir in gewisser Weise verlernt haben zu sehen und dass wir dann fast davor erschrecken, dass es plötzlich so offenbar wird."
Es sind oft genau diese Momente, die Eidinger einfängt - Schnappschüsse: Ein Paar, das eine Treppe hinabschreitet, sie im roten, langen Kleid, er im schwarzen Anzug - auf der Fassade des Gebäudes ein großes Plakat mit einem Paar in eben diesen Farben. Zwei Kinder im Park, die mit der Kapuze vor dem Gesicht "blind" spielen. Ein Mann mit einer weißen Taube auf der Schulter, ein Soldat in Uniform vor einer Bauplane mit grünen Blättern. Dazu immer wieder Stillleben. Eine Marmorbalustrade steht quer auf dem Bürgersteig, dahinter das heruntergelassene Metallgitter einer Garageneinfahrt.
Eidinger: "Ich möchte beim Betrachter etwas provozieren"
Welche Materie
Willst Du sein? Beton Steine
Marmor oder Zeit?
Leseprobe
... fragt Yoko Tawada. In einem Interview hat Lars Eidinger gestanden, dass er sich von der Dichterin oft missverstanden gefühlt hat. Und tatsächlich können ihre Haikus verwundern. Dann wieder öffnet Tawada weitere Bild- oder Denkhorizonte, wenn sie beispielsweise einen Obdachlosen, der sich neben einem Geldautomaten unter einer Pappe ausgestreckt hat, mit Gregor Samsa vergleicht. Der wird in Kafkas berühmter Erzählung "Die Verwandlung" zum Käfer:
Panzer aus Pappe
Keine Euro(pa)karte
für Gregor Samsa
Leseprobe
"Mir macht es Spaß, einfach zu vermitteln, wie ich denke und das zu teilen. Und erstaunlicherweise sieht ja jeder etwas anderes in diesen Bildern. Ich liefere auch keine Interpretation mit, ich möchte beim Betrachter etwas provozieren, etwas auslösen", sagt Eidinger. Immer wieder hat er Obdachlose aufgenommen, "Samsa" in Budapest, andere in Paris, Berlin, Salzburg, Köln. In welchem Jahr und an welchem Ort die Fotografien entstanden sind, verrät kurz und knapp das Register am Ende. Die meisten stammen aus den Jahren 2020 bis 2023, doch vereinzelt sind auch ältere Aufnahmen dabei.
Lars Eidinger sucht die Auseinandersetzung mit dem Publikum
Der Kampf zwischen Mensch und Natur ist ebenfalls ein großes Thema. Wir sehen eingezäunte Bäume, Wurzeln, die den Asphalt zum Platzen bringen, einen einsamen Efeustrang, der eine graue Hauswand emporzuklimmen scheint, eine Frauenskulptur, die fast vollständig bewachsen ist. Doch sind diese vielen, zum Teil ähnlichen Motive gut verteilt. Insofern ist der Band, so zufällig das Nebeneinander der Fotos wirken mag, dramaturgisch klug aufgebaut. Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, dass das letzte Bild den Filmpalast in Cannes zeigt. Der Mensch baut und sucht sich seine Bühne und oft auch seine Rolle. Für Eidinger gilt das unbedingt. Ein anderer Mensch saß 2019 in Montreux auf einer Bank am See - mit Bärenkopf:
Abendlicher Strand
Bärenarbeit ist getan
Wer bin ich als Mensch?
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Lars Eidinger ist auch als Fotograf einer, der die Auseinandersetzung mit einem Publikum sucht. Der Fragen wie "Wer bin ich als Mensch, wer sind wir, wie leben wir?" mit seinen Bildern weitergibt. Er hat einen Blick für die skurrilen, entlarvenden Momente, Sinn für manchmal auf groteske Weise korrespondierende Farben und Formen. Mit ihm auf die Reise zu gehen, lohnt auf jeden Fall.
O Mensch
- Seitenzahl:
- 288 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hatje & Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5311-1
- Preis:
- 40 €