Nicole Jäger: "Ich habe mich immer nach oben gescheitert"
Schon in ihrer Kindheit hat sie tiefe Verletzungen erlebt, sich auf 340 Kilo gefuttert und immer wieder Rückschläge erlitten. Aber ihr gelang die Befreiung - als Comedienne und Autorin, die witzig ist und Mut macht. Ein Porträt.
Nicole Jäger ist ein fleischgewordenes Klischee, ein Widerspruch in sich: Die Dicke, die sich einen Schutzpanzer anfuttern musste, die Introvertierte, die über intimste Details aus ihrem Leben plaudert, eine Menschenscheue, die vor riesigem Publikum auf der Bühne steht. Vor allem ist Nicole Jäger extrem witzig und - so überstrapaziert das Wort auch ist - Nicole Jäger ist authentisch. „Ich glaube, um glaubwürdig zu sein, gerade wenn man von Dingen spricht, die gerade nicht so toll laufen, muss man Privates und sehr Persönliches preisgeben“ sagt die Hamburger Autorin und Comedienne.
Ein langer Roadtrip nach Spanien und zu sich selbst
Das tut Nicole Jäger reichlich, auf der Bühne und in ihren Büchern, gerade ist ihr viertes erschienen. "Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein", heißt es. Darin erzählt die 42-Jährige von einer Reise, die sie völlig überstürzt nach einem Auftritt antrat. Es ist eine Reise zu sich selbst.
Sie berichtet von Begegnungen, von Erfahrungen, Heulattacken und Glücksmomenten, wie sie in Panik verfällt, als sie in ihrem Auto-Motor plötzlich Flüssigkeit nachfüllen muss, oder sie sich an einem wortkargen Wirt in Frankreich die Zähne ausbeißt. Und sie reflektiert immer wieder über ihr Leben, das so voller Widersprüche zu sein scheint. Das ist oft sehr komisch, häufig absurd und immer scheint es ehrlich.
Für jeden und jede eine Umarmung
"Klar klingt es komisch, dass ich als Introvertierte auf der Bühne vor Hunderten vor Menschen stehe“, erzählt sie in ihrem kleinen Haus in Hamburg Winterhude, da wo sie am liebsten ihre Zeit verbringt. Aber für sie sei die Bühne ein privater, ein persönlicher Bereich. Sie bezeichnet sie als "safe space". Schwierig wird es für sie erst, wenn sie auf ihre Fans trifft - und trotzdem bekommt jeder eine Umarmung oder ein Foto von und mit ihr. Sie wisse nur allzu gut, dass viele Menschen glaubten, mit ihren Problemen allein zu sein. "Das aber stimmt nicht. Und ich glaube, deswegen funktionieren meine Programme und meine Bücher mit ihrer Kombination aus Humor und Comedy auch so gut, weil wir uns als Menschen immer dort verbinden, wo wir schon mal kaputt gegangen sind."

Kaputt gegangen ist die 42-Jährige schon häufig in ihrem Leben. Als Kind eher ruhig und schon damals leicht übergewichtig, entsprach sie nie den Erwartungen - nicht in der Familie, nicht in der Schule, nicht in der Gesellschaft. "Ich glaube, ich habe für mich irgendwann herausgefunden, dass ich immer versucht habe, nicht der Mensch zu sein, der ich bin, weil die Erwartungshaltung von außen halt immer wahr: Sei anders, sei nicht so weich, sei nicht so emotional, sei nicht so verletzlich. Hör mal auf so ein Mädchen zu sein quasi. Sei anders."
Ihr Körpergewicht um die Hälfte reduziert
Nicole Jäger zog sich in sich zurück, wurde immer dicker und dicker, begab sich in eine toxische, gewalttätige Beziehung und wagte sich nicht mehr vor die Tür. Irgendwann aber machte es doch "klick" und sie begann abzunehmen: von 340 auf 170 Kilo. Und weil sie damit ganz schön allein war, schrieb sie darüber in einem Blog. Der Rowohlt Verlag wurde auf sie aufmerksam, bot ihr einen Buchvertrag für "Die Fettlöserin" an und schickte sie auf Lesereise.
"Mein bester Freund und heutiger Manager hat da gesagt, dass es stinklangweilig sei, wenn ich da nur sitze und lese. Niemand wolle eine Dicke lesen sehen. Daher sollte ich lieber ein Bühnenprogramm machen", erinnert sich Nicole Jäger. Gesagt, getan. Seitdem hat sie weitere Bücher geschrieben, über das Weiblichsein, über eine toxische Beziehung und jetzt eben über Selbstzweifel und Überforderung. Sie tourt mit ihrem Programm durch den ganzen deutschsprachigen Raum, aktuell mit "Walküre" und ist immer wieder in Comedy-Shows im Fernsehen zu sehen.
Nie nimmt sie ein Blatt vor den Mund, Peinlichkeiten kennt sie nicht, offen geht sie mit ihren Schwächen um. Sie habe sich ihr ganzes Leben "nach oben gescheitert". Das macht sie so glaubwürdig, denn darin fühlen sich viele verstanden. Das ist wohl eines ihrer Geheimnisse.
Geholfen hat ihr auch ihr Studium - zur Gebärdendolmetscherin. Gearbeitet hat sie in dem Job zwar nie, aber enorm davon profitiert. "Das Erste, was ich gelernt habe im Studium, war der Mut zur Hässlichkeit. Und dass es nicht darum geht, schön zu sein, sondern, dass dich das Gegenüber versteht, Bilder in den Köpfen der Menschen zu malen." Das macht Nicole Jäger bis heute als Autorin und Comedienne - und das mit allen ihren Abgründen und Selbstzweifeln.
Nicole Jäger will Mut machen
"Ich denke immer, dass die Situation größer ist als ich selbst bin", sagt Nicole Jäger. Das gilt für ihren Beruf, in dem sie sich immer wieder aus ihrer Komfortzone ins Rampenlicht schiebt. Das gilt aber auch für ihr Privatleben, wie sie es in "Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein" so amüsant, kurzweilig und doch berührend beschreibt. "Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich immer denke, ich bin gar nicht mutig genug für das, was ich mache." Dann aber sei die Erkenntnis gekommen: Muss sie auch gar nicht, wichtig sei, es trotzdem zu tun. "Denn ob du es ängstlich machst oder nicht, ändert nichts an der Situation. Das Einzige, was sich ändert, ist, dass du hinterher wächst."
