"Neapel": Außergewöhnlich schöner Bildband fernab der Klischees
Wer einen mare-Bildband aufblättert, landet schnell an Traumorten. Aber nicht unbedingt auf der Klischee- und Schokoladen-Seite - eher auf der schrägen, besonderen, abgründigen. Wie in dem jüngsten Bildband "Neapel".
Eine Stadt ist wie ein Buch, ihre Straßen wie Buchzeilen. Und manche Bücher lesen sich wie ein Streifzug, wie ein Blick durchs Autofenster, während warmer Wind hereinweht, oder vom Rücksitz einer Vespa, die Augen vor Glück geschlossen.
"Neapel": Eine Feier des Augenblicks
Die Fotografien von Giovanni Cocco vibrieren vor Licht und Schatten - und vor Dynamik. Sie zeigen flüchtige Momente: Nichts ist hier fest, auch der antike Stein nicht, alles fließt, bewegt sich. Das Neapel in diesem Prachtband ist eine Feier des Augenblicks. Denn nur einen Vulkanausbruch später könnte es damit schon vorbei sein.
Alles an ihr ist extrem, sie ist die gelebte Dualität, ist Glanz und Abgrund, ist Licht und Schatten, ist Meer und Festland, der Tod steckt genauso in ihr wie das Leben - und beides wird lustvoll zelebriert. Leseprobe
Zora del Buono stimmt in ihrem einfühlsamen Vorwort auf diese sehr neapolitanische Gemengelage ein. Die Stadt wurde auf dem Körper einer selbstmörderischen Sirene errichtet - so weiß es der Mythos. Auf dem versteinerten Riesenleib der Parthenope nämlich, jener Sirene, die von Odysseus überlistet wurde und sich frustriert im Meer ertränkte; sie bildet seither den Untergrund der Stadt.
Ein Naturtheater, das nie schläft
Die ungewöhnlichen Fotografien, oft über eineinhalb Seiten, zeigen Schichten, Steine über Steine, das Feste und Flüchtige, das, was diese Stadt ausmacht. Ohne jegliche Sehenswürdigkeiten und Postkartenblicke. Auch wenn der Vesuv über allem thront, wie ein alter grimmiger Verwandter, der manchmal, alle Jahre wieder tobt und zum Massenmörder wird.
Der Rest sind Blicke, hingewehte Perspektiven, das blitzend-silbrige Meer und Menschen. Paare, Passanten, eilig, in ihr Leben vertieft, Menschen beim Einkauf, müde von Partys, beim Dösen in der Mittagssonne - nach dem Bad in einer uralten antiken Therme oder einer blauen Bucht.
Eine Krankenschwester müht sich mit einer Tüte einen Hügel hinauf, drei Nonnen kurz vor dem Eintauchen in eine dunkle Gasse, ein junger Mann am Rand einer Tanzfläche, leergefeiert. Als wären sie alle Akteure eines Naturtheaters, das nie schläft, höchstens halbschläft. Und diese Gefährdung fängt der außergewöhnlich schöne Bildband ein. Lasziv und konkret.
Neapel: Eine Stadt voller Gegensätze
Tief unter den Straßen liegt ein anderes Neapel, ein Netz von Katakomben und Tunneln, von Zisternen und Schatten. Eine Welt der Toten. Und oben, weit oben, auf den Hügeln: die Welt der Wohlhabenden. Die Welt des Lichts.
Der Blick über Stadt und Meer und die Inseln von hier oben ist allerdings atemberaubend, die Herrlichkeit des Golfs von Neapel liegt vor einem ausgebreitet, und man möchte meinen, man sei Zeit und Raum enthoben, den Elementen ganz nah, doch fern der Nöte der realen Welt. Leseprobe
Und Nöte gibt es in dieser gebeutelten Stadt reichlich. Stichwort Mafia, Stichwort Armut - die Fotos lassen sie spüren. Eine abgewetzte Hausfassade, an der ein Bild Diego Maradonas hängt, des Fußballgottes, der für Neapel gespielt hat. Und wie im Vorbeigleiten geht der Blick auf die paradiesischen Inseln vor Neapel, Ischia etwa. Traumgebilde, schön, unwirklich, vorne fällt ein scharfer Schatten auf einen grobkörnigen Strand, über den ein Junge rennt. Gegensätze.
Ein Lied von Pino Daniele ist die inoffizielle Hymne Neapels, schreibt Zora del Buono. Darin stecke viel Wahrheit über Neapel, Zeilen, so einfach wie poetisch:
Neapel ist tausend Farben, Neapel ist tausend Ängste, Neapel ist eine bittere Sonne, Neapel ist der Duft des Meeres. Leseprobe
Neapel
- Seitenzahl:
- 132 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- mare
- Bestellnummer:
- 978-3-86648-706-2
- Preis:
- 58 €