Stand: 24.08.2017 14:28 Uhr

Aufgetautes Grauen

von Annkathrin Bornholdt
Lize Spit: "Und es schmilzt" © S. Fischer Verlag
Lize Spit, Jahrgang 1988, schreibt Kurzgeschichten, Drehbücher und Romane. Sie wuchs in einem Dorf in Flandern auf.

Belgien hat einen neuen Star in der Literaturszene: Lize Spit. Mit ihrem Debütroman "Und es schmilzt" hat es die 1988 in Flandern geborene Autorin im vergangenen Jahr im Nu auf Platz 1 der Bestsellerlisten geschafft. Kritiker überschlugen sich mit Lobeshymnen. Das 500 Seiten starke Buch bekam zahlreiche Preise. Kein Wunder, dass der S. Fischer Verlag, der den Roman in diesen Tagen in Deutschland auf den Markt bringt, entsprechend die Werbetrommel gerührt hat. Denn natürlich erhofft man sich hier ähnlich gute Verkaufszahlen. Zu Recht?

"Knallhart und kompromisslos" - "Vertraut, überraschend, einfallsreich und erbarmungslos"- "beklemmendes Kopfkino". Bei so vielen Adjektiven, die einem der Verlag im Pressetext und auf dem Buchcover mitliefert, ist es gar nicht so einfach, unvoreingenommen an die Lektüre heranzugehen. Dieses Buch - so wird vermittelt - muss eine Wucht sein.

Böse Erinnerung an einen Sommer 2009

Dabei passiert auf den ersten 250 Seiten erst mal gar nicht viel. Wir erfahren, dass eine junge Frau mit einem Eisblock im Auto nach Bovenmeer, in das Dorf ihrer Kindheit, fährt. Während dieser Reise erinnert sich die Ich-Erzählerin Eva an den Sommer 2002, in dem etwas Schreckliches passiert sein muss. Es ist der Sommer, in dem sie gemeinsam mit ihren Freunden Pim und Laurens ein perfides Spiel entwickelt hat, bei dem es darum geht, das Aussehen von Mitschülerinnen zu bewerten. Die Mädchen werden in Verstecke eingeladen und bekommen ein Rätsel, das sie mithilfe von Fragen lösen müssen. Für jede falsche Frage fällt ein Kleidungsstück. 

"Ohne mit der Wimper zu zucken fummelt An ihren Slip unter dem engen Minirock hervor. Es ist ein kleiner String. Den faltet sie zu einem Viereck und steckt ihn sich in die Tasche. […] Sie hat maximal vier Chancen. Das ist ihr offenbar nicht klar." Leseprobe

Ein Mikrokosmos im katholischen Flandern

Nach und nach entfaltet Lize Spit den Kosmos, in dem diese merkwürdige Geschichte spielt: das kleine katholische Dorf in Flandern, in dem jeder jeden kennt. Die Langeweile und Leere, die wie Blei über dem Ort liegt und die kompensiert wird mit Klatsch und Tratsch. Die Schlachterei von Laurens Eltern und den Bauernhof von Pims Familie, wo sich die drei Freunde herumtreiben und jeden Winkel kennen. Und das Elternhaus der Ich-Erzählerin, in dem so einiges im Argen liegt: die Mutter trinkt, der Vater ist suizidgefährdet - er hat der Tochter sogar schon den Strick im Schuppen gezeigt, an dem er sich erhängen will. Der ältere Bruder Jolan hat ein eigenartiges Faible für tote Insekten und die kleine Schwester Tesje entwickelt immer mehr Zwänge und Neurosen.

"Es hat wieder über eine Stunde gedauert, bis Tesje heute Mittag geduscht hatte. Wahrscheinlich weil sie jedes Mal einen Fehler machte, nicht mit dem richtigen Fuß voran über den Wannenrand stieg, das Shampoo nicht ordnungsgemäß auf dem Kopf verteilte. Sie hatte sich schließlich bestimmt zehnmal waschen müssen, bis alles richtig ablief, denn als sie herauskam, war die Haut in ihrem Nacken und an den Armen rot." Leseprobe

Trotz einiger Längen in den ersten zwei Dritteln ist das die Stärke dieses Buchs: die Präzision, mit der Lize Spit die Trostlosigkeit in den Familien und die desolate Psyche ihrer Figuren schildert. Das zunächst noch harmlos beginnende Spiel von Eva, Laurens und Pim wird immer brutaler. Es kommt zu sexuellen Übergriffen und bald ahnt man, dass noch viel Schlimmeres bevorsteht. Was hat dazu geführt, dass diese Jugendlichen - sie sind alle um die 14 - sämtliche Hemmungen und jedes Schamgefühl verloren haben? Ist es der mysteriöse Tod von Pims Bruder Jan?

An der Grenze des Erträglichen

Oder ist es das Umfeld, das Fürsorge, Wertschätzung, Liebe und Offenheit so sehr vermissen lässt - wo die Eltern Weihnachten im Suff zubringen:

"Wenn der Salat gemischt war, jeder eine Pellkartoffel auf seinem Teller liegen hatte und wir uns geeinigt hatten, wer welche Fonduegabelfarbe nehmen durfte, versuchte sie, mit Vater mitzuhalten. Das war die einzige Möglichkeit, einan­der hinterher nichts vorzuwerfen: den ganzen Abend auf dem exakt gleichen Betrunkenheitslevel zu bleiben. Mutter bediente sich aus zwei Gläsern gleichzeitig." Leseprobe

Geschickt führt Lize Spit Vergangenheit und Gegenwart am Ende zusammen. Es ist, als würde man das ganze Buch über dem Eisblock im Kofferraum beim Schmelzen zuschauen, um an den Kern der Geschichte zu gelangen. Doch genau an diesem Punkt überschreitet die Autorin mit ihren Schilderungen endgültig die Grenze des Ertragbaren. Muss man sexuelle Gewalt so detailliert schildern, um ihren Schrecken zu erfassen? Spit macht ihre Leser zu Voyeuren - das erscheint einem so sinnlos, wie die Brutalität, die sie beschreibt.

Und es schmilzt

von Lize  Spit, Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Seitenzahl:
512 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
S. Fischer Verlag
Bestellnummer:
978-3-10-397282-5
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 25.08.2017 | 12:40 Uhr

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Krimis

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