"Lenken Menschen in die falsche Richtung": Warum wir nichts verändern
Unser Wissen über Probleme wie den Klimawandel ist umfassend. Warum verändern wir dennoch nichts? Der Soziologe Alex Demirović behauptet im Podcast Tee mit Warum, dass wir dazu ein neues System etablieren müssten.
Das Streben nach Reichtum und die Lenkung von Arbeitskraft in nachweislich problematische Bereiche wie den Tourismus müssten neu organisiert werden. Doch dazu sind unsere vorhandenen Institutionen nicht in der Lage, meint Alex Demirović. Der promovierte Sozialwissenschaftler ist außerplanmäßiger Professor im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main und Senior Fellow an der Leuphana Uni in Lüneburg. Demirović forscht zu kritischer Gesellschaftstheorie, Staats- und Demokratietheorie sowie zu Krisen- und Katastrophen-Dynamiken. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Alex Demirović, angesichts der vielen Krisen, mit denen wir arbeiten müssen: Warum verändern wir nichts?
Alex Demirović: Verändern wir wirklich nichts? Wir verändern so vieles, dass es zu Krisen kommt. Die Veränderungen finden statt. Eigentlich müssten wir überlegen, in die Veränderungen hinein Veränderungen vorzunehmen. Auch die werden teilweise praktiziert. Es reicht oft nicht, oder es geht in die falsche Richtung.
Persönlich wäre ich für eine Geschwindigkeitsbegrenzung, für eine Größenbegrenzung der Automobile. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, und dann stellt sich die Frage, warum wird das nicht gemacht, obwohl es schnell ginge und helfen würde. Aber da hängen so viele Interessen daran. Wenn die Automobilindustrie sowieso so stark in der Krise steckt, könnte man fragen: Ist das nicht ein Zeitpunkt darüber nachzudenken, wie Mobilität langfristig geändert werden könnte?
Warum schauen wir nicht das Problem konkret an? Was hält uns davon ab, der Realität ins Auge zu sehen?
Demirović: Meine Einschätzung seit vielen Jahren ist, dass wir keine Institutionen haben, die das bewältigen können. Demokratien operieren auf der Basis von Vier- oder Acht-Jahresrhythmen. Autoritäre Regime wollen es nicht lösen. Wenn man sich die Probleme klarmacht, hat man mit so vielen Folgefragen zu tun - wie wir unsere Lebensweise ändern zum Beispiel. Man muss dann auch an die Lebensweise der Mittelklasse, die der höheren Klassen, an die Lebensweisen in verschiedenen Ländern denken. Die einfachen Leute streben nach diesen Lebensformen und die Reichen verfügen darüber. Da gibt es eine Abhängigkeit, die mir sehr kompliziert erscheint und wo wir lange Zeithorizonte brauchen, um diese Prozesse anzugehen.
Wenn ich ein Beispiel sagen darf. Ich war in Bolivien, und ich fand interessant, dass es durch die Regierung unter Morales möglich war, dass die indigene Bevölkerung zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht nur Schulen, sondern auch Universitäten besuchen konnte. Die Leute sind stolz darauf, dass das endlich möglich ist, dass der ganze Reichtum nicht nur an Weiße und Mestizen geht, sondern auch an die indigene Bevölkerung. Das berührt aber den Reichtum dieses Landes, also Landwirtschaftsprodukte, Rohstoffe wie Lithium und so weiter. Das heißt, die brauchen unsere Nachfrage, damit sie ihre Kinder auf die Schulen und Hochschulen schicken können. Das ist ähnlich wie bei den Grönländern, die sagen, sie sind froh, dass das Eis wegschmilzt. Für uns ist es ein Desaster. Für sie bedeutet das Zugang zu Reichtum. Das heißt, wenn wir das Reichtums-Modell nicht ändern, also andere Verhältnisse auch auf globalem Niveau schaffen, dann wird es schwierig. Ich glaube, in die Richtung müssten Änderungen geben.
Das klingt nach radikalen, großen Veränderungen. Sind wir deshalb so gelähmt, weil es unvorstellbar für uns ist, ein ganz neues System aufzubauen? Und wie müsste dieses System aussehen?
Demirović: Fredric Jameson sagt: "Man kann sich leichter den Untergang der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus." Wenn wir mit Kapitalismus nicht nur Geld meinen, sondern auch eine Vielzahl von Verhältnissen, unter denen wir leben. Ich finde, es sind auch kleine Veränderungen, wenn man zum Beispiel an Ernährungspraktiken denkt oder an Mobilitätspraktiken.
Ich erinnere eine interessante Begebenheit in der Pandemie. Da wurde eine junge Frau gefragt, wo sie im Lockdown im April 2024 wäre, wenn kein Lockdown wäre. Sie sagte, sie wäre ich in Thailand. Es gibt diese jungen Leute, die die Vorstellungen haben, sie müssen in ihrem Leben in jedem Land dieser Erde einmal gewesen sein. Warum eigentlich? Was genau bedeutet das? Viele Steine zu sehen? Oder habe ich wirklich Kontakt zu Mitmenschen? Dann sagte die junge Frau, sie entdecke jetzt, wie schön es am Rhein ist.
Diese Bedürfnisse, von denen du gerade gesprochen hast, - zum Beispiel in jedem Land der Welt jeden Stein gesehen zu haben - die entstehen nicht einfach so im Menschen, sondern die haben etwas mit dem System zu tun und sind strukturell, oder?
Demirović: Das ist sehr folgenreich, weil es bedeutet, eine riesige Maschinerie in Gang zu setzen. Daran hängt eine riesige Menge an Touristik, an Werbung, an Agenturen, sodass man sagen kann, unsere Gesellschaften sind verdifferenziert. Wir lenken unsere Arbeitskraft in Bereiche hinein, die möglicherweise für unsere Gesamtentwicklung als Gesellschaft gar nicht von Vorteil sind. Wir geben weltweit eine Billion US-Dollar im Jahr für Werbung aus. Das heißt, da hängen ganz viele Menschen dran, die diese Arbeit machen.
Man kann sich fragen, ob wir nicht Ressourcen, Menschen in die falsche Richtung lenken. Neugierig die Welt kennenzulernen, das verstehe ich gut. Ich finde, man muss überlegen: Hat es einen Sinn? Ich war gerne in Bolivien. Ich war auch gerne in Brasilien, aber es hatte einen ganz konkreten Sinn. Ich bin in Kontakt mit Menschen gekommen und habe dadurch viel von den Verhältnissen im Land und von den Leuten erfahren.
Inwieweit ist es überhaupt möglich, eine andere Lebensweise für sich selbst zu finden und dadurch strukturelle systemische Bedingungen zu verändern?
Das ist eine Frage, die wir über viele Jahre hin und her schieben, in der Lebensreformbewegung, der 1920er-Jahre oder in den ökologischen Reformdiskussionen seit der 80er-Jahre. Partiell löst es etwas. Die Entwicklung zum Beispiel von Biobauernhöfen oder biologischem Weinanbau kann tatsächlich in bestimmten Gemeinden oder bezogen auf landwirtschaftliche Nutzflächen etwas ändern. Insofern würde ich sagen, gibt es immer wieder interessante Modelle.
Ein Merkmal in der multiplen Krise ist die Krise des Verhältnisses zum Wissen. Schon in den 1930er-Jahren hat man von der Krise der Wissenschaften gesprochenen. Edmund Husserl hat das aufgebracht und es wurde von anderen aufgenommen. Ich glaube, das müssen wir heute auch. Wir haben enorm großartiges Wissen, wissenschaftliches Wissen über die Probleme. Aber es übersetzt sich nicht. Man sieht es bei den Verhandlungen auf den großen internationalen Konferenzen, dass man denkt, das übersetzt sich nicht in relevante politische Strategien.
Deswegen meine ich, unsere Institutionen sind im Moment nicht gut dafür. Welche Art von neuen Institutionen brauchen wir, die so leistungsfähig sein könnten? Klar, das setzt politischen Willen voraus. Wir drehen uns immer ein bisschen im Kreis. Man muss, glaube ich,weit darüber hinaus denken, als nur zu glauben, Parteiendemokratie im Vierjahresrhythmus könnte das lösen. Denn dann macht die eine Regierung etwas Positives, und die andere unterläuft es wieder.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.