Schauspieler Lars Eidinger als Foto-Künstler: "Autistic Disco"
Wenn es einen Schauspieler gibt, der Sanft- und Fiesheit perfekt miteinander verbinden kann, dann ist es der im deutschen Film omnipräsente Lars Eidinger.
Lars Eidingers Figuren bleiben im Gedächtnis, egal ob sie wüten, weinen oder abgründig lächeln. Die Eidinger-Fans wissen längst, dass sein Medium nicht nur die Bühne oder die Arbeit vor der Kamera ist: Er sampelt Musik, legt als DJ auf und: Er ist Fotograf. Der Instagram-Account mit Eidingers Blick auf die Welt hat 144.000 Abonnenten. Täglich fotografiert er seine Umwelt: Schnappschüsse aber sind seine Fotos nicht.
Ausstellungen in Aachen und Hamburg
Mittlerweile werden auch Museen aufmerksam: Eine Ausstellung mit Eidingers Fotografien im Aachener Kunstverein gab es schon, in der Hamburger Kunsthalle sollen sie im Rahmen der Ausstellung "Klasse Gesellschaft" im November dieses Jahres zu sehen sein. Beim Verlag Hatje Cantz ist der erste Fotoband von Lars Eidinger erschienen mit dem Titel "Autistic Disco".
Der Kopf eines Goldhamsters, etwas unscharf und überbelichtet, sein Körper steckt in einer Klopapierrolle fest. Der Gegenentwurf zum sprichwörtlichen Hamster im Laufrad. Eidinger erinnert sich: "Das ist von 1982. Ich war da sechs Jahre alt. Das war unser Goldhamster, der gehörte meinem Bruder und mir und den hab ich in eine Klorolle gesteckt und hab ihn auf den Couchtisch gestellt."
Lars Eidinger war dieses frühe Foto wichtig in seinem ersten Bildband. Um gleich am Anfang klar zu machen: Er ist kein Neuling im beobachtenden Gewerbe. Er war schon immer empfänglich für die Widersprüche der Welt, als Grundschüler musste er die mit einem Hamster inszenieren. Im Jahre 2018 muss er nur noch nach oben schauen und fotografiert die schwenkbare Überwachungskamera an der Wand. Die wird geschützt von einem hölzernen Käfig, und der erinnert an eine Predigtkanzel oder an einen besonders edlen Laufstall für Kleinkinder.
Die Fotografien vermitteln Einsamkeit
"Das Archiv einer zukünftigen Vergangenheit wird ein visuelles sein", schreibt der Autor Simon Strauß im Vorwort des Bildbands, und er attestiert Eidingers Bildern, die Gefühlsgeschichte unserer Gegenwart zu liefern.
Einsamkeit vermitteln die Fotografien. Selten ist ein Mensch zu sehen, und immer passt irgendetwas nicht: Wie das einzige Baguette, das sich bananengleich krümmt und den ihm zugewiesenen Platz verlassen hat, während die anderen 79-Cent-Brote aufrecht stehend im Supermarktregal ausharren. Der Ostsee-Strandkorb, der die Trostlosigkeit des vergitterten leeren Neubaubalkons noch ein bisschen schmerzhafter macht. Oder der Ficus, den jemand hinter die letzte Trennwand neben zwei Pissoirs gerückt hat.
Das Smartphone erlaubt spontanes Fotografieren
Die Welt, wie wir sie uns eingerichtet haben, ist eingezäunt, abgeranzt und erschöpft auf diesen Fotos, und Eidinger erfasst den Moment, an dem die Dinge rebellieren. Die meisten dieser Fotos entstanden mit dem Smartphone.
"Früher gab es immer den Moment, die Entscheidung, ich nehme jetzt die Kamera mit und dann war die immer wie so Ballast. Dann hab ich auch ganz anders geguckt und gedacht: Jetzt hab ich schon die Kamera dabei, jetzt will ich irgendwas finden. Aber wenn ich sie nicht mitgenommen habe, dann hab ich plötzlich 1.000 Sachen gesehen, wo ich gedacht habe, die würde ich jetzt gern festhalten. Ich suche die Sachen halt nicht, sie begegnen mir", erklärt Eidinger.
So wie die Frau am steinigen Strand. Sie hat ihr Badetuch ausgebreitet und sich rücklings darauf gelegt mit ausgestreckten Beinen. Der Blick von ihren Füßen sieht aus, als würde sie ein großes "A" formen wollen, auf dem ein glühend rotes Herz liegt. Ihr Kopf verschwindet völlig darunter. Ihr Busen im roten Badeanzug bildet die beiden Herzbögen. Man lacht über dieses Foto, aber plötzlich schmerzt sie, die Einsamkeit an diesem Strand voller Liegestühle auf einer französischen Urlaubsinsel.
Stadtansichten wie Bühnenbilder
Die Fotografien des Bildbands entstanden zumeist in den letzten vier Jahren, überall auf der Welt: In Mexiko und Berlin, in Seoul und Paris. Häufig fotografiert Lars Eidinger urbane Szenen, die wie Bühnenbilder wirken. Allerdings brauchen sie keinen Schauspieler, der die Bühne betritt, denn das Drama spielt sich ohne Worte, ohne Skript ab. Wie bei dem Schlafenden, der vor der Glaswand eines Bettengeschäfts in Köln sein Nachtlager aufgeschlagen hat.
Eidinger sagt: "Der Mann hat geschnarcht und ich fand es so unangenehm, dass man da steht und es ist kalt und da liegt jemand - nur getrennt durch eine Scheibe stehen einen Meter weiter fünf ungenutzte Betten. Damit will ich aber nicht konfrontieren; ich möchte gucken, was es mit mir macht, dieses Bild auszuhalten."
Das ist vielleicht doch ein wenig zu narzisstisch und ein bisschen zu sehr das eigene Künstlertum überhöhend. Denn natürlich konfrontiert Eidinger, der urbane, kritische, moderne Flaneur, der keine Angst vor Abgründen hat.
"Autistic Disco" heißen die Abende, bei denen Lars Eidinger als DJ zunächst an der Berliner Schaubühne, dann in der ganzen Republik auflegte. Nun will er die Galerien und Museen erobern mit seinem pointierten Blick auf die autistische, widersprüchliche Welt. Berühren kann er.
Autistic Disco
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Text(e) von Simon Strauß, Gestaltung von Karsten Heller, Deutsch, Englisch, 80 Abb., Hardcover, 17,00 x 24,00 cm
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-4781-3
- Preis:
- 30,00 €