"Im Zweifel gegen das Kind": Buch kritisiert Sorgerechtsverfahren
Familiengerichte, Jugendämter und die Polizei treten Kinderrechte immer öfter mit Füßen, schreiben die Autorinnen Jessica Reitzig und Sonja Howard.
Mehr als 200.000 Paare streiten sich nach ihrer Trennung jedes Jahr vor Gericht um das Sorgerecht. Die Aufgabe des Staates: diese Kinder zu schützen. Doch oftmals gelingt genau das nicht, wie die Kinderschutz-Expertin Sonja Howard und die Journalistin Jessica Reitzig in ihrem Buch "Im Zweifel gegen das Kind" eindrücklich schreiben. Stattdessen treten Familiengerichte, Jugendämter und die Polizei Kinderrechte immer öfter mit Füßen. Die Autorinnen berichten von Kindern, die mehr als 30 Anhörungen über sich ergehen lassen müssen und von Verfahrensbeteiligten ohne adäquate Ausbildung- ins Verhör genommen werden. Das sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, so die Autorinnen.
Jessica Reitzig und Sonja Howard schildern erschütternde Fälle
Eine Mutter protestiert: "Die Schutzräume der Kinder und ihrer Seelen werden durch Familiengerichte und ihr Helfersystem aufs Gröbste verletzt. Und die Frauen aus dem Leben ihrer Kinder später entsorgt. Ich bin eine davon." Anna Hansen im Oktober vor der Staatskanzlei Hannover. Nur noch alle 14 Tage, so der Beschluss des Familiengerichts, darf sie ihren Sohn sehen. Ergebnis eines 12 Jahre langen erbitterten Streits um Umgangs- und Sorgerecht.
Jessica Reitzig, Journalistin und selbst Mutter, hat mit ihrer Kollegin Sonja Howard viele Fälle recherchiert, in denen Jugendämter und Gerichte, wie sie sagen, "die Kinderrechte mit Füßen treten.": "In etlichen dieser Fälle war eines der wesentlichen Probleme, dass die entscheidenden Personen am Jugendamt und im Familiengericht offensichtlich gar kein Problem damit hatten, Gewalt gegen Kinder anzuwenden, von staatlicher Seite verordnet, mit Polizeieinsatz, und den klar geäußerten Willen dieses Kindes zu brechen. Und das ist etwas, das verstößt gegen viele Gesetze und gegen viele internationale Konventionen, und das dürfte nicht passieren." Fast 50.000 Kindesentnahmen 2022. Ein neuer Rekord. Das Buch schildert erschütternde Fälle von Müttern aber auch Vätern, denen die Kinder weggenommen werden. Wie die Autorinnen sagen, habe das System.
Der Fall der Annette W.: Ordnungshaft wegen Verweigerung der Herausgabe der Tochter
Annette W. ist ein Fall aus Jessica Reitzigs Buch. Mit einer ihrer beiden Töchter ist sie untergetaucht. Der Grund: Laut einem Gerichtsbeschluss des OLG Celle soll die Mutter 30 Tage in Ordnungshaft, weil sie gegen die Herausgabe der Tochter verstoßen hat. Ihre Tochter soll - laut Gericht - beim Vater leben, obwohl sie das nicht will. Weigert sie sich, droht ihr eine "stationäre Aufnahme", sprich Heimaufenthalt. "Das ist eine absolute Bedrohung für mich. Ich soll ins Gefängnis gehen, weil meine Tochter bei mir leben will. Das ist auch eine Absurdität, die ich überhaupt nicht fassen kann", so Annette W. Die Tochter fügt hinzu: "Ich habe solche Angst, dass ich meine Mama nie wieder sehen darf. Ich würde sie so sehr vermissen."
Rückblick: 2018 trennt sich Annette W. von ihrem Mann. Das Familiengericht beschließt im Streit: Beide Töchter sollen wöchentlich zwischen Vater und Mutter wechseln. Nachdem die Kinder das nicht mehr wollen, werden sie laut Gerichtsbeschluss 2020 zum Vater umplatziert, wie es im Behördendeutsch heißt. Der Vorwurf: Die Mutter würde die Kinder gegen den Vater beeinflussen. "Beide Kinder wurden jeweils von einem anderen Polizisten weggetragen, wurden mir entrissen, haben geschrien. Es war ein Wahnsinn. Es ist wie ein Überfall", so Annette W.
Staat wende unrechtmäßig Gewalt gegen Kinder an
Eindrücke einer anderen "Kindesentnahme": Der Junge wehrt sich, will nicht mitkommen. Er soll weder vernachlässigt noch misshandelt worden sein und wird trotzdem von seiner Mutter getrennt und mit Gewalt zum Vater gezwungen. "Das ist ein klarer Rechtsbruch. Das dürfte nach unserem Recht und Gesetz so nicht passieren, weil der Staat nur Gewalt gegen Kinder anwenden darf, wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist. Der Staat darf nicht Gewalt anwenden, um Umgänge herzustellen", erklärt Jessica Reitzig.
Gleichzeitig erleben wir auch das Gegenteil: Jugendämter reagieren mitunter zu spät, wenn Kinder in Problemfamilien in Not sind. "Wir befinden uns in einem chronisch überlasteten System. Dieses System fällt permanent auf einer Seite vom Pferd. Also, es sitzt niemand im Sattel und hat genug Ressourcen, um Kindern und Jugendlichen strukturiert und konsequent zu helfen, weil viele Menschen nicht gut ausgebildet sind, weil sie nicht genug Kapazitäten haben, diese Fälle zu bearbeiten", sagt Jessica Reitzig.
Landen sie dann aber vor einem Familiengericht, werden die Prozesse von Eltern im Buch als zutiefst demütigend beschrieben. Vor allem Müttern wird oft unterstellt, sie hätten ein zu enges Verhältnis zum Kind, sie seien, wie es juristisch heißt, "bindungsintolerant". "Dieser Begriff wird häufig eingesetzt, um Mütter ganz gezielt von ihren Kindern zu trennen, weil sie angeblich andere Bindungen ihrer Kinder nicht tolerieren könnten, also die Bindung zum Vater unterlaufen würden. Das wird dann als Begründung genommen, damit Müttern das Sorgerecht entzogen wird", sagt Jessica Reitzig.
Klare Forderungen an die staatliche Jugendhilfe
Auch der 19-jährige Yuqi Gardner erlebt derzeit einen Sorgerechtsstreit in seiner Familie. Seine Mutter hat Angst, ihre minderjährigen Kinder zu verlieren und ist mit ihnen ins Ausland geflohen. Als Mitglied des Jugendparlaments von Göttingen will er sich hier für mehr Kinder- und Jugendrechte einsetzen: "Wenn wir sagen, wir wollen Kinder- und Jugendrechte in unserem Staat mehr verankern, beziehungsweise die Jugend mehr beteiligen, dann müssen wir ganz schnell etwas an diesem System ändern. Und nicht nur, dass es schön aussieht und dass wir uns nach außen hin als kinder- und jugendfreundlichen Staat ausgeben, der wir aber so in der Praxis oftmals leider nicht sind."
Auch Jessica Reitzig hat ganz klare Forderungen an die staatliche Jugendhilfe: "Das fängt an mit Fortbildungen für Jugendamtsmitarbeiter, mit klar benannten Inhalten, was müssen die zum Thema Kinderschutz und Kinderrechte wissen, bevor wir die rausschicken ins Feld. Was muss ein Richter wissen, bevor er an einem Familiengericht arbeiten darf? Das sind alles Dinge, die nicht konkret gesetzlich festgelegt sind, und das führt dazu, dass viele Kinder nicht so geschützt werden, wie es das Grundgesetz vorsieht." Ihr Buch - ein lauter Appell an alle Behörden und Gerichte: Es ist dringender Handlungsbedarf!
Im Zweifel gegen das Kind
- Seitenzahl:
- 368 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Zusatzinfo:
- Untertitel: Wie Gerichte, Jugendämter und Polizei die Kinderrechte mit Füßen treten
- Verlag:
- Ullstein Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 19. September 2023
- Bestellnummer:
- 9783430211000
- Preis:
- 20,99 Euro €