Günter Grass: "Der Butt"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Günter Grass' "Der Butt".
Von Hanjo Kesting
Günter Grass war bei Erscheinen von "Der Butt" fünfzig Jahre alt. Ein Buch also der Lebensmitte und Lebenshöhe. An Ruhm reicht es an die "Blechtrommel" nicht heran, doch ist es zweifellos sein stofflich und zeitlich am weitesten ausgreifender Roman, ein Weltbuch.
Wie in Kürze eine Vorstellung davon vermitteln? Der Roman umfasst neun Bücher, in denen Begebenheiten aus neun historischen Epochen erzählt werden, von der Steinzeit bis in die Gegenwart. Die menschliche Geschichte, der gesamte, sich über Jahrtausende hinweg vollziehende Zivilisationsprozess der Menschheit wird in romanhafter Gestalt noch einmal aufgerollt, um der Frage nachzugehen, warum dieser Prozess immer tiefer und unausweichlicher in globale Katastrophen gemündet ist. Wann fing dieses Elend an? Mit dieser Frage sind wir bei Günter Grass‘ sprechendem Fisch, dem Butt.
Plattdeutsches Märchen als Vorgeschichte
Er hat eine literarische Vorgeschichte, denn wir kennen ihn aus dem plattdeutschen Märchen "Von dem Fischer un syner Fru", das die Brüder Grimm in ihre berühmte Märchensammlung aufgenommen haben. Dieses Märchen bildet das Erzählmodell, nur ist es diesmal nicht die Frau, die ihre vermessenen Wünsche immer höher schraubt, sondern Grass führt uns durch eine von Männern bestimmte Welt, und sein sprechender Fisch steht im Dienst der männlichen Sache, als Ratgeber auf einem Weg, der durch die ganze überschaubare Geschichte in Krieg, Zerstörung und Selbstzerstörung führt. Wer oder was ist der Butt? Ein Fabelwesen? Eine Allegorie? Ein Symbol? Und wenn ja, ein Symbol wofür? Das lässt sich kaum beantworten, und ich bezweifle, ob der Autor selbst es genau hätte angeben können. Am Schluss des Buches wird der Butt vor ein feministisches Tribunal gebracht und schuldig gesprochen, wenn auch mit einer milden Strafe: Er wird im Meer ausgesetzt.
In solcher Knappheit nacherzählt, klingt all das nach Kopfgeburt und einem Übermaß an Didaktik, aber die Erzählung selbst ist von einer Dichte, die ihresgleichen sucht. Sie wird in verschiedenen Schichten und Strängen, quer durch die Epochen und mit einem guten Dutzend von Protagonisten und Protagonistinnen erzählt, alles miteinander vermischt und verschlungen, gemäß der Maxime des Erzählers: "Ich, das bin ich jederzeit". Eine andere Maxime lautet: "Auf unserem Papier findet das meiste gleichzeitig statt". Der Erzähler genießt das Privileg, von Kapitel zu Kapitel weiterzuleben, über die Zeiten und Epochen hinweg, während ihm auf dieser turbulenten "Zeitweil" neun historische Frauen begegnen, Köchinnen zumeist, die mit raffinierten Rezepten auf ihre Weise Politik machen. Man kann die Kunst nur bewundern, womit Grass seinen gewaltigen Stoff disponiert hat, wie er mit vielen Bällen gleichzeitig jongliert, ohne dass ihm auch nur ein einziger Ball entfällt. Den Rahmen des Ganzen bildet ein körperdampfender Liebes- und Geschlechterkampf, der den geschichtlichen Kampf der Mächte, Interessen und Ideologien unaufhörlich begleitet.
Zwei Versionen vom "Fischer un syner Fru"?
Über das Märchen "Von dem Fischer un syner Fru" heißt es, es habe in zwei Versionen existiert, einer männlichen und einer weiblichen, aber nur die weibliche von der gierigen Ilsebill sei uns überliefert worden. Den Roman "Der Butt" kann man als den Versuch verstehen, die verlorene andere Version zu rekonstruieren. Aber welche Version ist die wahre? Die Antwort wird auf Plattdeutsch gegeben:"»Dat een und dat anner tosamen." Das ist eine ebenso geniale wie rätselhafte Antwort, über die wir uns den Kopf zerbrechen können. Vielleicht liegt des Rätsels Lösung darin, dass der Kampf der Geschlechter immer aufs Neue ausgetragen werden muss, in jeder Epoche, in jeder Generation, in jedem einzelnen Paar. Der Blick in die menschliche Geschichte führt uns nicht in ein Reich der Freiheit und schon gar nicht ins Paradies. Das ist das alte Sisyphos-Thema, das Grass auch hier, wie in so vielen seiner Bücher, variiert. Und der Fortschritt, wenn es einen gibt, vollzieht sich im Schneckentempo. Am Ende bleibt keine andere Möglichkeit, als nochmals den Butt um Rat zu fragen. Aber da fängt die ganze Geschichte wieder von vorne an.