"Funkstille": Zehn Lebensentwürfe im Einklang mit der Natur
Der beeidruckende Bildband "Funkstille" beleuchtet zehn Personen, die sich irgendwann bewusst für die Einsamkeit in der Natur entschieden haben.
Es dürfte ein typischer Städter-Wunsch sein: Raus aus dem Lärm und den steinernen Häusern und Straßen, rein in die Natur: früh von der Sonne geweckt werden, das Wasser nicht aus dem Hahn, sondern aus dem Bach holen. Und insgeheim ahnt man doch: Das macht man nie! Zu anstrengend, zu unsicher, zu unheimlich ist es, auf die Bequemlichkeiten der Zivilisation zu verzichten. Der Fotograf Brice Portolano hat zehn Menschen in zehn Staaten besucht, die sich das getraut haben. Ausgewählte Aufnahmen von diesen Begegnungen hat er in dem Bildband "Funkstille" veröffentlicht.
Glückliches Leben in eiskalter Tundra-Landschaft
Es ist ein zarter, weicher, liebevoller Kuss - und die blonde junge Frau in der schneereifbestreuten Winterjacke, deren Gesicht zwischen der groben Wollmütze und dem übers Kinn gezogenen Schal gerade so hervorschaut, nimmt ihn gern entgegen. Ihr Blick scheint träumerisch in weite Ferne gerichtet, während sie die Zärtlichkeit genießt. Der sie küssende Husky hingegen ist ganz auf sein Frauchen konzentriert, er muss sich emporrecken, um seine schwarze Hundenase an ihre zu drücken, und ganz vorsichtig leckt er einmal schnell ihre Lippen. Um sie beide herum liegt nichts als Schnee - dick, pulverig, kalt.
Tinja lebt in Lappland in der finnischen Gemeinde Inari, zusammen mit 15 Fjordpferden, Islandpferden, Mustangs und: mit 85 Huskys.
Sie sind meine besten Freunde. Egal, in welchem Seelenzustand man gerade steckt - im Zusammensein mit ihnen verfliegt alles. Leseprobe
Zierlich wirkt Tinja nur auf den ersten Blick, wenn sie zum Beispiel in der eiskalten Tundra-Landschaft das verhedderte Gespann eines Hundeschlittens entwirrt oder aus einer unter der Schneedecke verborgenen Quelle Wasser in zwei Blecheimer füllt. Doch wenn sie im Dunkeln mit der Axt einen großen Block gefrorenes Rentierfleisch in kleinere Stücke haut, allein im Licht ihrer Stirnlampe arbeitend, erkennt sowohl der aufs Futter wartende Schlittenhund am Bildrand wie auch der Betrachter dieses Bildbands sofort: Die Frau langt auch bei minus 20 Grad ordentlich zu!
Als Rentierzüchterin in der Mongolei
Bei der kräftigen Zaya kommen da erst gar keine Zweifel auf: Die Mitt-Dreißigerin in dem grobmaschigen schwarzen Wollpulli über einem blauen Stoffgewand sieht aus, als habe sie ihr Leben lang Rentierkühe unter freiem Himmel gemolken oder an kurzem Zügel durch den Lärchenwald geführt. Doch im Alter zwischen sechs und 16 lebte Zaya ein Leben wie jeder andere amerikanische Teenie in Boulder/Colorado: mit Kino, Cola und Handy. Und trotzdem zog es sie innerlich zu ihrem Geburtsland zurück - in die Mongolei.
Ihr Weg führte über ein Studium in der 25-Millionen-Einwohner-Stadt Shanghai ins Darchad-Tal im äußersten Norden der Mongolei: Auf einem Quadratkilometer leben in Shanghai 4.000 Einwohner, in der Mongolei sind es zwei.
Der Wind fegt ins Zelt, und die Winter sind lang. Sie dauern sieben Monate, und die Temperaturen können unter minus 50 Grad Celsius fallen. Mit den Rentieren ist man die ganze Zeit draußen. Leseprobe
Wenigstens den Tieren scheint in ihrem Fell sehr warm zu sein, wie sie da neben den Zelten aus weiß-grauen Stoffbahnen im vertrockneten Gras liegen und ruhen. Die Rentierzüchter rücken dafür abends sehr nah ans Lagerfeuer heran und hüllen sich in dichte Filzdecken. Und tagsüber ist ja dauernd etwas zu tun, sagt Zaya.
Die Zeitwahrnehmung in der Taiga ist anders; man ist ständig beschäftigt und die Tage vergehen viel schneller als in der Stadt. Leseprobe
Bewusste Entscheidung für die Einsamkeit
Der Engländer George, der mit 18 einen Bauernhof in der Toskana als Ruine vorfindet und in gut zwölf Jahren in eine Herberge mit Lehmbackofen und Gemüsegarten verwandelt. Die Amerikanerin Sky, die mit 26 in den Norden Patagoniens zieht, einen Gaucho heiratet und selbst mit goldenem Zopf unterm Hut inmitten einer gewaltigen Staubwolke reitend ihre Rinder antreibt. Oder die Norwegerin Elena, die ihren Journalistinnen-Job aufgibt, um als Leuchtturmwärterin auf einer winzigen Felsinsel nahe den Lofoten zu leben - sie alle haben sich irgendwann bewusst für die Einsamkeit in der Natur entschieden. Dort, wo jeden Tag "Funkstille" herrscht.
Dass dieser Bildband es schafft, sie alle ohne falsche Beschönigung zu zeigen, Mühsal nicht verschweigt und doch die Majestät ihres Lebens aufscheinen lässt, ist ein großes Verdienst.
Funkstille. Zehn Lebensentwürfe im Einklang mit der Natur
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- teNeues
- Bestellnummer:
- 978-3-96171-403-2
- Preis:
- 39,90 €