Fotoband "H2O-scapes": Wunderschöne Landschaften aus Wasser
Sylvie Leblanc hat die weite Wasserfläche des Sankt-Lorenz-Stroms östlich von Québec fotografiert - und das von immer demselben Ort aus. Trotzdem gleicht keine Aufnahme der anderen.
Eine weite Wasserfläche, ihr Ende im Nirgendwo. Leicht gekräuselte blau-rosa-graue Wellen deuten Wind an. Leise weht der Luftzug über sie hinweg und verschiebt mit sanftem Hauch diesige, niedrig hängende Nebelschwaden. Der hellgraue Himmel über allem ist einfach da; wo er anfängt, wo die trennende Wasserlinie verläuft - ungewiss.
Die Landschaftsaufnahme füllt den gesamten Buchdeckel mit Vorder- und Rückseite, ein beeindruckend schöner Effekt. In silbernen Lettern ist vertieft der Name der Fotografin im unteren Viertel eingeprägt, je nach Lichteinfall unterschiedlich klar lesbar: "Sylvie Leblanc", und der Titel: "H2O-scapes".
Das Kunstwort macht stutzig: Also nicht Landschaften sind das Motiv dieses Bildbands, keine landscapes, auch keine seascapes - sondern "H2O-schaften". Wasserstoff-Sauerstoff-Moleküle, Tröpfchen, Wölkchen und Wolken. Dunst. Flusswasser, Eisschollen. Flächen aus Nässe, mal flüssig, mal gasförmig oder gar gefroren.
Alle Nuancen von Grau
Bei verändertem Lichteinfall, zu anderer Tageszeit, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Grauer, glatter erscheint nun die Wasserfläche, einheitlicher in der Farbe - obgleich eine wacklige horizontale Linie aus verwaschenem Weiß andeutet, dass gerade ein Schiff durchs Bild geglitten ist. Der Himmel eine einzige Wolke, tropfenschwer und doch vorwiegend weiß, während das Wasser alle Nuancen von Grau zeigt.
Und das gleiche Bild noch einmal anders: ein großer Sonnenfleck in der Mitte, glänzend, fast metallisch schimmernd in den Wellen, die auf einmal scharf konturiert und deutlich hervortreten. Noch dunkler, dunstiger, feuchter ist die Luftschicht darüber, kein Horizont erkennbar.
"Alle meine Nebel-Serien entstanden am selben Platz in Kanada und zeigen den Blick von einem Haus in La Malbaie", sagt Sylvie Leblanc über ihre Fotografien. "Wenn sich Nebel- und Dunstschleier auf dem Sankt-Lorenz-Strom bilden, wird die Landschaft zeitweise unsichtbar. Der Ausschnitt wechselt, die Objektive auch."
Das erklärt, wie unterschiedlich Wellen, Wasserlinien, Gischt und kleine Schaumkronen auf den Fotografien wahrnehmbar werden. Trotz des Blicks in ein vermeintliches Nichts lenkt Sylvie Leblanc den Blick des Betrachters, vergrößert mal Details oder betont die Weite. Obwohl ihre Bilder farbig sind, dominiert das Grau - faszinierend, wenn plötzlich die Einsicht kommt, wie breit allein die Palette von graublau, graubraun, grauschwarz, graurosa, grausilber, graugold und graugrün sein kann.
Sylvie Leblanc lässt Grenzen verschwimmen
Viele Fotografen haben Ähnliches unternommen und dabei ganz verschiedene künstlerische Ergebnisse erzielt. Hiroshi Sugimotos schwarz-weiße Himmel und Ozean-Bilder sind exakt in der Mitte horizontdurchschnitten. Ebenso akkurat teilt Lucinda Devlin ihre Bilder des Lake Huron in zwei Hälften aus See und Himmel, gewinnt ihnen aber unendlich viele Farb- und Stimmungs-Variationen ab, von sonnenuntergangsorange bis zu nachtgeheimnisgrün.
Sylvie Leblancs Sankt-Lorenz-Strom dagegen zeigt so gut wie keinen Horizont. Ihr Trick ist es, Grenzen zu verwischen, verschwimmen zu lassen. Ein Sfumato-Effekt in der Fotografie.
"H2O-scapes": Bemerkenswert schönes Fotobuch
Wie schade, dass ihre eigenen "Notizen" anstelle eines Nachworts ebenso verschwommen ausfallen wie ihre Bilder. Im Versuch, sich selbst kulturhistorisch einzuordnen, schweifen ihre Gedanken von Platon über Foucault bis zu Gerhard Richter. Einfälle blitzen auf, müssten länger bedacht werden, versinken zu früh; der Text zerfließt, bevor sich eine Erkenntnis einstellt.
Doch das passt letztlich zum Gesamtbild eines bemerkenswert schönen Fotobuchs, in dem alles fluide, alles Wabern und Wasser ist; ungreifbar, schwebend, veränderlich.
H2O-scapes
- Seitenzahl:
- 88 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Kerber
- Bestellnummer:
- 978-3-7356-0959-5
- Preis:
- 38 €