Stand: 04.09.2020 14:24 Uhr

Was zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung geschah

von Silke Lahmann-Lammert

Einmal im Jahr erstellt die "Stiftung Buchkunst" eine Liste der 25 "schönsten deutschen Bücher". Damit ehrt die Stiftung herausragende Werke, die durch eine besonders gelungene Gestaltung überzeugen - sei es als Roman, als Sachbuch, als Kinderbuch, Kunstbuch oder als Ausstellungskatalog. Ein einzelner Titel aus dieser Liste wird dann noch einmal gesondert herausgehoben: Mit dem "Preis der Stiftung Buchkunst", dotiert mit 10.000 Euro.

Am 4. September ist der Preis für das Jahr 2020 vergeben worden - ausgezeichnet wurde der Band "Das Jahr 1990 freilegen". Ein fast 600 Seiten starker Fotoband, der das schicksalsträchtige Jahr nach dem Mauerfall illustriert. Mit Text-Bild-Montagen, Essays, Briefen, Sitzungsprotokollen - vor allem aber mit schwarz-weißen Bilderstrecken, großartigen Fotografien aus dem ersten Nach-Wende-Jahr. Bilder, die wie auf Knopfdruck die Erinnerung an 1990 zurückbringen und an die Menschen, die damals wichtig waren.

Ibrahim Böhme - Shooting Star der Ost-SPD 

Heute kennt kaum noch jemand seinen Namen. Vor 30 Jahren war das anders: Damals war Ibrahim Böhme eine schillernde Figur. Der Shooting Star der neugegründeten Ost-SPD, Hoffnungsträger und Spitzenkandidat bei den Volkskammerwahlen 1990.

"Ich habe ihn vier Wochen während des Wahlkampfs für den "Stern" begleitet", berichtet Ute Mahler. Für die Fotografin ist es die erste Langzeit-Reportage im Auftrag einer westdeutschen Zeitschrift. "Wahlkampf hatte ich noch nie fotografiert. Den gab es ja in der DDR nicht", blickt Mahler zurück.

"Stern"-Reporterin Mahler hält Böhmes Unsicherheit fest 

Der charismatische Böhme muss erst lernen, wie man sich als Staatsmann gibt und medientauglich vermarktet. Diese Unsicherheit hat Ute Mahler mit der Kamera festgehalten: Auf dem Parteitag der Ost-SPD in Leipzig sitzt der Spitzenkandidat mit angezogenen Schultern neben dem völlig entspannten Ehrenvorsitzenden Willy Brandt.

Auch zu Gesprächen mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse begleitet die Fotografin den Politikneuling. In Moskau porträtiert sie Böhme breit lächelnd auf dem Roten Platz. So, als könne er kaum glauben, wie weit er es gebracht hat. "Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Böhme mir Rollen zeigt. Die spielte er gut", erinnert sich Mahler. "Aber auf Dauer nervt es, weil man merkt: Jemand zeigt dir etwas, um etwas anderes zu verbergen."

Und Böhme hat viel zu verbergen: Seinen gefälschten Lebenslauf, die erfundenen jüdischen Eltern, seine jahrelange Tätigkeit als Spitzel der Staatssicherheit. Unmittelbar nach seiner Enttarnung fotografiert Ute Mahler ihn im Fahrstuhl. "Ich hatte das Gefühl, dass es zu weit geht, jetzt ein Foto zu machen, dass es unanständig ist. Trotzdem habe ich es gemacht", so die Fotografin. Ein Porträt, das unter die Haut geht: Böhme im Trenchcoat. Das ergraute Haar wirr, sein Blick verloren: ein zerstörter Mensch.

Buch zeigt Hunderte Fotos aus dem Jahr 1990

Ute Mahlers Fotos gehören zu den bewegendsten Hunderter Aufnahmen, die in dem Bildband "Das Jahr 1990 freilegen" versammelt sind. Das dicke, fast 600 Seiten starke Buch beginnt mit der jubeltrunkenen Silvesterfeier 1989/90 am Brandenburger Tor und endet mit Schneeflocken, die zwölf Monate später auf ein übrig gebliebenes Stück der Berliner Mauer fallen. 

Dazwischen setzen Jan Wenzel und seine Mitherausgeberinnen Stück für Stück die Chronologie des Jahres 1990 zusammen. Jede Seite ist eine Collage aus Erinnerungen, Tagebucheinträgen und zeitgeschichtlichen Dokumenten.

Mehr als alle Worte erzählen jedoch die Bilder: Anselm Graubners Porträt eines VEB-Arbeiters vor einem Poster der Pin-up-Ikone Samantha Fox. Sein Foto von den Öfen, in denen Erfurter Stasi-Mitarbeiter Berge von Akten verbrannt haben. Oder Andreas Rosts Aufnahmen von den Jury-Mitgliedern, die bei der Wahl zur "Miss Leipzig" selbstgefällig die Bewerberinnen taxieren. "Nach zwei Minuten kam der Bruderkuss", erinnert sich Uta Müller, eine der damaligen Teilnehmerinnen. "Und dann wurde mit dem Hotelschlüssel gewunken."

Fotos bilden Facetten der Ereignisse von 1990 ab 

Die Euphorie, die Aufbruchstimmung der DDR-Bürger, der Run auf westliche Konsumtempel, die komischen und traurigen Details der überstürzten Einheit: Alles das bringen die sorgfältig ausgewählten Fotos in Erinnerung. Der Bildband "Das Jahr 1990 freilegen" ist ein so reiches und umfassendes Buch, dass man es mit Freude immer wieder zur Hand nimmt. Um - wie unter einem Brennglas - einen Moment in unserer Geschichte zu betrachten, der das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen bis heute prägt.

Das Jahr 1990 freilegen

von Jan Wenzel (Hrsg.)
Seitenzahl:
592 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Fadengeheftete Broschur, 24,5 x 33,2 cm, zahlreiche Schwarz-Weiß- und Farbfotografien
Verlag:
Spector Books Leipzig
Bestellnummer:
9783959053198
Preis:
36,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 06.09.2020 | 16:20 Uhr

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