"Bohemia": Schillernde Welt der gesellschaftlichen Außenseiter
Der Bildband erzählt in Fotos und Gemälden die Geschichte der Boheme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Bilderreise ist vom ersten bis zum letzten Foto spannend, hintergründig und faszinierend.
Kein Geld, um etwas zu essen zu kaufen, aber den Kopf voller Ideen: So stellen wir uns die "Boheme" vor. So hat der Schriftsteller Henri Murger das Künstlerdasein 1851 in seinen "Szenen aus dem Pariser Leben" beschrieben. Seine Schilderungen einer fröhlich-melancholischen Existenz am Rande der Gesellschaft war die literarische Vorlage für Puccinis Erfolgsoper "La Bohème". Und sie prägen bis heute den Blick auf das selbstgewählte Außenseitertum.
Musik, Krach und Gespräche im "Chez Meunier"
Eine junge Frau sitzt auf einer gepolsterten Bank in einem Bistro. Sie stützt ihren Kopf auf den Arm und lächelt in sich hinein. Dass sie fotografiert wird, scheint sie nicht zu bemerken. Kein Wunder: Vor ihr stehen eine Flasche und ein Schnapsglas. Und beide sind leer.
Mit seiner Serie "Die Liebenden von St. Germain-des-Prés" hat der Fotograf Ed van der Elsken der Pariser Boheme der 1950er-Jahre ein Denkmal gesetzt. Wer dazu gehören wollte, traf sich im "Chez Meunier". "Eines Tages öffnete ich die Tür zu einem Café und ich hatte meine Leute gefunden", erinnert sich die Schriftstellerin Michèle Bernstein an ihren ersten Besuch im Stammlokal der Gruppe. "Sie waren Alkoholiker - sehr junge Alkoholiker, wie wir alle. Jeden Nachmittag kamen sie zusammen und dann gab es Musik, Krach und Gespräche bis tief in die Nacht." Damals war sie sich "absolut sicher", "dass wir alle berühmt werden, die alte Welt durch eine neue ersetzen würden und soziale Revolution verwirklichen."
Fast alle, die bei "Chez Meunier" verkehrten, waren kreativ: Manche schrieben, andere malten oder machten Musik, wieder andere frönten hemmungslos dem Müßiggang.
"Bohemia": Foto-Tour in die schillernde Welt der gesellschaftlichen Außenseiter
In seinem neuen Buch beschreibt der Kunsthistoriker Russell Ferguson die Geisteshaltung, die Bohemiens bis in die Gegenwart vereint: Bürgerliche Konventionen - wie die Ehe oder geregelte Arbeit - lehnen sie ab. Umso entspannter ist ihr Umgang mit Alkohol und Drogen. Darüber hinaus beobachtet der Autor "eine Bereitschaft, als Preis für diese Freiheiten eine unter Umständen brutale Armut zu akzeptieren."
Fergussons Bildband "Bohemia" nimmt uns mit auf eine Foto-Tour in die schillernde Welt der gesellschaftlichen Außenseiter. Von den Künstlerkneipen an der Seine führt die Reise in die verrauchten Jazzkeller New Yorks. Zu Billie Holiday und Dexter Gordon, der sich zwischen zwei Einsätzen eine Zigarette gönnt. Wenige Straßen weiter führt ein Polizist nach einer Schlägerei Miles Davis ab. Es muss hoch hergegangen sein: Hemd und Jacket des Trompeters sind mit Blutflecken übersät.
Nach einem Besuch bei den Beat-Poeten Allen Ginsberg und Jack Kerouac geht es zurück nach Europa, in die glamouröse Ära des "Swinging London": Partys mit Mädchen im Twiggy-Look, schwarz bemalte Augen, Minikleider, dürre Streichholzbeine in weißen Strumpfhosen. Der blutjunge Mick Jagger blickt rebellisch in die Kamera. Aber in seinem weichen Jungengesicht wirkt die Pose eher rührend als rotzig.
Spannende Bilderreise mit Fotografien, Gemälden und Collagen
Autor Russell Ferguson illustriert seine "Geschichte der Boheme von 1950-2000" nicht nur mit Arbeiten wichtiger Fotografinnen und Fotografen - darunter David Bailey, Robert Mapplethorpe und Nan Goldin -, sondern auch mit Gemälden und Collagen: Alice Neel, Alex Katz oder Lucian Freud sind nur einige der Malerinnen und Maler, die in ihren Werken das Leben am Rande der Gesellschaft thematisiert haben. Dass dieses Dasein auch brandgefährlich sein kann, zeigen Porträts von Bohemiens, die in totalitären Staaten wie Russland, China oder dem Iran ihre Homosexualität ausleben.
Fergusons Bilderreise ist vom ersten bis zum letzten Foto spannend, hintergründig und faszinierend - nicht zu vergessen das Cover aus leuchtend blauem Samt. Ein Einband, der verqualmte Clubs und Klänge von "The Velvet Underground" heraufbeschwört und das Buch - schon wenn man es zur Hand nimmt - zu einem sinnlichen Erlebnis macht.
Bohemia. History of an Idea, 1950 - 2000
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5466-8
- Preis:
- 48 €