Bildschöne Bücher: "World Press Photo Yearbook 2023"
Die aktuelle Ausgabe des Bildbands "World Press Photo Yearbook" mit den besten Aufnahmen des vorigen Jahres ist kein "bildschönes", aber ein sehr wichtiges Buch.
Seit 1955 zeichnet eine Jury die besten Bilder eines Jahres von Fotojournalistinnen und -journalisten weltweit aus. Dabei ergeben die prämierten Bilder in ihrer Gesamtheit keine Chronik, denn es geht nicht darum, die Ereignisse eines Jahres möglichst lückenlos und umfassend darzustellen. Die Betrachter dieser strikt nach journalistischer Qualität ausgewählten Aufnahmen bekommen dennoch einen Eindruck von der Welt, in der wir derzeit leben; von ihren Konflikten und gewaltigen Problemen, aber auch von Lösungsansätzen und Momenten der Hoffnung.
Eine starke Entscheidung der Herausgeber
Müde und zugleich trotzig, todtraurig, aber ungebeugt, scheinbar passiv, doch in Wahrheit ein einziger flammender Protest: Die junge Frau, die auf einem belebten Platz in Teheran an einem gelben Resopaltisch sitzt - langer hellbrauner Mantel, schwarzes Shirt, graue Hose, weiße Turnschuhe - trägt offenes schwarzes Haar, das sich lockig auf ihren Schultern kringelt, und blickt mich direkt an. Genau genommen blickt sie jeden an, der dieses Foto betrachtet, mit einem Gesichtsausdruck, der in seinem entschlossenen Ernst betroffen macht. Bei genauem Hinsehen: schockiert.
Nein, sagt dieses Gesicht. Nein. Ich lasse mich nicht unter den Hidschab zwingen, ich beuge mich nicht diesem mörderischen, menschenverachtenden Regime. Ich trage mein Haar offen, ich bin frei.
Die Frau riskiert ihr Leben für diese Aufnahme, der Fotograf ebenso. Es ist nicht das Pressefoto des Jahres, die Jury ordnet es sogar bloß unter der Rubrik "lobende Erwähnung" ein. Doch es zum Titelbild dieses Buches zu machen, ist eine starke Entscheidung der Herausgeber. Denn das Bild zeigt zugleich die Schlichtheit dieses Protestes und den Mut, der dafür nötig ist. "Und wenn ihr uns Frauen im Iran einfach so tötet - geben wir dennoch nicht nach", sagt es. Ganz ruhig - aber unumstößlich.
Pressefoto des Jahres zeigt russischen Terror
Das Pressefoto des Jahres ist im Inneren des Bandes abgebildet, nicht gleich auf dem Buchdeckel, aus Respekt vor den Opfern der furchtbaren russischen Kriegsmaschinerie. Wieder ist eine junge Frau im Mittelpunkt; Frauen sind weltweit Opfer brutalster Aggression. Sie ist schwanger, russische Truppen haben die Geburtsklinik in Mariupol absichtlich angegriffen - das sage nicht ich, das hat ein OSZE-Bericht festgestellt. Der Versuch sie zu retten, sie auf einer Trage über Trümmer und abgebrochene Äste in Sicherheit zu bringen, wird scheitern. Sie und ihr Kind werden sterben. Doch das weiß der Fotograf in der Sekunde der Aufnahme noch nicht. Sein Bild zeigt den Terror der russischen Angriffe. Es ist die rohe Gewalt, die Menschen weltweit anderen Menschen zufügen.
"World Press Photo Yearbook 2023": Ein wichtiges Buch
Es ist nicht schön, diesen Bildband vorzustellen. Aber es muss sein. Denn wenn an dieser Stelle immer nur Malerei, Naturschönheit oder Mode zum Zuge käme, wäre das Bild auf Dauer zu einseitig. Die Welt umfasst noch viel mehr.
Sie umfasst israelische Polizisten in schwarzer Kampfmontur, auf unbewaffnete Zivilisten einprügelnd, die den Sarg einer getöteten Journalistin tragen - wahrscheinlich erschossen von israelischem Militär, hat dessen eigene Untersuchung ergeben. Sie umfasst jubelnde Menschenmengen in Buenos Aires nach dem Sieg Argentiniens bei der Fußball-WM. Rund fünf Millionen Menschen waren anschließend auf den Straßen unterwegs - eine Nation in Verzückung wegen eines Balls im Netz. Sie umfasst das milde Lächeln einer Ghanaerin, die an Demenz leidet und deshalb mit anderen Erkrankten in ein Camp gesperrt und als Hexe bezeichnet wurde - die auf diesem Foto aber eine warmherzige Würde ausstrahlt. Auch diese ältere Dame sitzt einfach still da, wie die Iranerin auf dem Titelbild. Die Ghanaerin jedoch hat die Hände im Schoß gefaltet und lächelt, freundlich in sich ruhend.
Die in diesem Fotoband gezeigte Welt umfasst Vieles, was man sich als Durchschnitts-Nachrichtennutzer selten vor Augen führt. Deshalb ist das Buch wichtig.
Ein ganz klein wenig Hoffnung
Und die Hoffnung? Kommt mit einem bitteren Beigeschmack.
In einem Gewächshaus in Italien wachsen Tomaten heran, unter LED-Lampen, die zu 100 Prozent mit Ökostrom betrieben werden. Dadurch kann man sie ganzjährig ernten, auf nachhaltige Weise - und doch lässt es frösteln, dass Früchte in künstlichen Laboratorien heranwachsen, um stets zur Verfügung zu stehen.
Ein ganz klein wenig Hoffnung? Oksana mussten nach russischem Beschuss beide Beine und mehrere Finger amputiert werden. Doch sie lebt; ihr Mann Viktor trägt sie im Krankenhaus in Lwiw vor ihrer Liege, sie klammert sich an seinem Oberkörper fest - und nur an ihren Augen sieht man, dass sie beglückt an seiner Schulter lächelt. Die Liebe ist stärker als alles andere.
World Press Photo Yearbook 2023
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hatje Cantz Verlag
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5434-7
- Preis:
- 29,50 €