Bildschöne Bücher: "Sunset - Ein Hoch auf die sinkende Sonne"
Warum sind wir immer wieder aufs Neue fasziniert vom Sonnenuntergang? Das untersucht derzeit eine Ausstellung in der Kunsthalle Bremen. Dazu ist ein anregender Ausstellungskatalog erschienen.
Das kompakte Büchlein ist noch nicht aufgeblättert - da löst schon der Einband Freude aus: Unter dem in Großbuchstaben geschriebenen Titel "Sunset" wölbt sich der Rand eines weißglühenden Sonnenballs. Aber nicht auf dem Cover, sondern auf einem breiten Papierstreifen mit den ineinander verlaufenden Farbtönen weiß, orange und gelb. Löst man diesen Umschlag vom Buch, wird darunter erst das wahre Cover sichtbar: "Ein Hoch auf die sinkende Sonne" steht dort in senkrechten Lettern geschrieben, von oben nach unten, in einer herabsinkenden Bewegung.
Der papierne Umschlag wiederum lässt sich auffalten zu einem Poster, größer als DIN A3; darauf zu sehen ist die ganze kraftvolle und zugleich müde Sonne, wie sie in einem Farbenmeer aus Zitronengelb und Blutorange mit sämtlichen Nuancen dazwischen versinkt. Aber tut sie das wirklich? Oder will bloß unser Auge genau das erkennen, was mit dem Wort "Sunset" groß und mittig beschrieben ist? Das Papier zeigt ja lediglich dreierlei Farben mit kugeligem Halbrund in der Mitte - schon glaubt der Mensch, einen Sonnenuntergang zu sehen.
Eine "Bühnenshow der Natur", die jeder anders empfindet
"Kaum ein Motiv ist so beliebt wie der Sonnenuntergang", schreibt Kuratorin Annett Reckert in dem ausführlichen Nachwort dieses Ausstellungskatalogs der Kunsthalle Bremen. "Es ist ein Ereignis, das sich tagtäglich wiederholt und doch jedes Mal wie ein letzter Akt empfunden wird. Menschen halten inne, sie sinnieren andächtig in die Ferne, sie fotografieren. Offensichtlich wird der Sonnenuntergang weit mehr als der Sonnenaufgang als eine Bühnenshow der Natur empfunden."
Eine Show, die jede Zuschauerin, jeder Zuschauer anders empfindet. Romantisch veranlagte Menschen spüren ein angenehm-wehmütiges Gefühl in der Brust; sie dürften viele Gemälde aus dem 19. Jahrhundert als ideale, wunderschöne Sonnenuntergangs-Darstellung ansehen. Antoine Chintreuils Ölbild "Offenes Meer, Abendstimmung" etwa aus den 1870ern, mit einem einsam hingetupften Segelschiffchen auf hellgrauen Wellen, über denen sich ein düsterer Wolkenhimmel mit feurigen Sonnenlücken erstreckt.
Christian Morgensterns "Burgruine" (1838) und Heinrich Jakob Frieds "Römisches Aquädukt" (1837) zeigen verfallende Bauwerke weit zurückliegender Jahrhunderte in einer von Abendlicht beschienenen Landschaft - der Sonnenuntergang wird zum Symbol des Vergänglichen, der Kurzlebigkeit auch der bedeutendsten Architektur und damit menschlichen Tuns.
Der Sonnenuntergang als "Memento-Mori-Movie des Himmels"
Für ernüchterte, desillusionierte Seelen in der Moderne sind Bilder der sinkenden Sonne bloß Kitsch, Massenware; schnell verfügbares Gefühl auf Knopfdruck wie bei Fiete Stoltes "8 Sunrises 8 Sunsets" - Polaroid-Schnappschüsse eines Reisenden, immer mit etwas Sonnenrestlicht, dazu mal mit Tragfläche im Bild, mit Verkehrsampel in dämmriger Straßenschlucht, Palme und Laternenmast.
Und dennoch bleibt das Thema relevant, findet Annett Reckert - auf jeden Fall dem Sonnenaufgang vorzuziehen: "Es sind auch unsere Zeiten, die für einen Fokus auf den Untergang sprechen. Zeiten, in denen Theorien und Bilder vom Untergang allgegenwärtig sind. In derartigen Visionen liegt die Motivation, sich mit dem Sonnenuntergang als einem täglich gebotenen Memento-Mori-Movie des Himmels eingehender zu beschäftigen."
Einen Himmels-Movie voller Bewegtheit bietet schon der schwarz-graue Kupferstich Matthieu van Plattenbergs aus dem frühen 17. Jahrhundert: Sonnenuntergang und Mondaufgang auf den beiden Bildhälften links und rechts werden umrahmt von windgepeitschten Ästen hochaufragender Laubbäume, ziehenden Wolken, ausfahrenden Segelschiffen und emsigen Ruderern im Fackelschein. Ein 400 Jahre altes Kunstwerk, das kaum weniger Bewegung enthält als Alex Cecchettis vor 15 Jahren entstandene Videoarbeit "Sun (One Day Old)", ein viereinhalb Minuten langer feuerfarbener Loop flirrender, fließender Luftspiegelungen und Sonnenreflexionen.
"Sunset": Anregender Bildband mit Gedichten und Prosa
Die enorme Vielfalt künstlerischer Bearbeitungen des Themas macht den handlichen Ausstellungskatalog zu einem anregenden Bildband, zusätzlich noch angereichert mit Gedichten und Prosa von Anja Kampmann bis Ulrike Draesner. Und einem Gespräch mit dem Leiter des Bremer Planetariums, der die Leserschaft mit der Nachricht erfreut, dass die sich aufblähende Sonne in Jahrmillionen die Ozeane auf der Erde verdampfen lassen und unseren Planeten in gut fünf Milliarden Jahren womöglich ganz verschlucken wird: "Am Ende wird die Sonne zu einem kleinen weißen Zwerg zerfallen. Dann ist sie tatsächlich untergegangen."
Sunset - Ein Hoch auf die sinkende Sonne
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5422-4
- Preis:
- 34 €