Buch-Cover: Diego Rivera - Sämtliche Wandgemälde © Taschen Verlag

Bildschöne Bücher: Monumentale Wandgemälde von Diego Rivera

Stand: 24.07.2023 16:11 Uhr

Mit seinen "Murales", also Wandgemälden, die ganze Treppenhäuser und Innenhöfe ausfüllen, ist der Künstler Diego Rivera zu einem der bedeutendsten Maler Mexikos geworden. Ein monumentaler Bildband zeigt nun "Sämtliche Wandgemälde" Riveras.

von Guido Pauling

Nackte Gewalt und unverhüllte Erotik, kommunistische Propaganda und mythische Verklärung mexikanischer Ureinwohner, anschauliche Volksbildung und plakative Agitprop - all dies findet sich in der Kunst Diego Riveras. Und doch können ein paar Schlagworte die Fülle, die Ideenvielfalt und bildnerische Kraft dieses Werks nicht annähernd beschreiben. Der Bildband mit mehr als 600 Seiten - darunter zahlreiche aufklappbare Doppelseiten - zeigt diese Fülle und Kraft aufs Schönste, wobei das simple Niveau der erläuternden Texte in denkbar großem Kontrast zur Sorgfalt bei der Bildwiedergabe steht.

Kombination verschiedenster Stilelemente

"Die Schöpfung" heißt passenderweise Diego Riveras erstes Wandgemälde: Ein biblisches Motiv, bei dem weniger Gottvater, Adam und Eva eine Rolle spielen als die Künste und der menschliche Geist. Rund um die zentrale Figur mit weit ausgebreiteten Armen (ein Gott?, ein Mensch?) sitzen und stehen Frauen in langen, farbigen Gewändern als Verkörperung des Tanzes, der Musik und des Gesangs, dazu der Nächstenliebe, der Hoffnung, des Glaubens und der Weisheit; rechts finden sich Gerechtigkeit, Kraft und Selbstbeherrschung, aber auch die Tragödie und die erotische Poesie.

Auffällig ist die Ähnlichkeit zu einem Fresko von Raffael und Perugino, das Diego Rivera bei einer Italienreise gesehen hatte. Doch der Künstler kombinierte diese europäischen Stil-Vorbilder mit der Tier- und Pflanzenwelt Mexikos, einer Harpyie, einem Jaguar und einer Agave. Und so sehr sich seine Malerei noch weiterentwickeln sollte - die Kombination verschiedenster Stilelemente von sozialistischem Realismus bis zu Symbolismus, von Neuer Sachlichkeit bis zu lateinamerikanischer Phantastik blieb eine Art Markenzeichen. Rivera wechselte Stile wie auch politische Ansichten, war erst Kommunist, bald Anti-Stalinist und lobte die Demokratie, verhöhnte auf Gemälden den US-Kapitalismus und nahm zugleich Aufträge der Familie Rockefeller an.

"Epos des mexikanischen Volkes": Überwältigende Wandmalerei in Mexiko-City

"Die wahre Wandmalerei ist eine Konstruktion aus Formen und Farben, die in vollständiger Harmonie mit dem Gebäude stehen muss, in dem sie angefertigt wird. Die Bauwerke in den Städten werden jeden Tag größer, um die Funktionen einer zunehmenden Anzahl von Menschen aufzunehmen, deswegen tragen die darin geschaffenen Malereien und Skulpturen immer mehr zum ästhetischen Genuss und zur Entwicklung der Sensibilität und einer größeren Genussfähigkeit der menschlichen Gemeinschaft bei", hatte der Künstler einst gesagt.

Ein ästhetischer Genuss mag Riveras Wandmalerei heutzutage für Touristen in Mexiko-City sein; vor rund 90 Jahren hatten viele seiner "Murales" vor allem die Bildung der breiten, leseunkundigen Bevölkerung zum Ziel. So entstand ab 1929 am Sitz der Regierung das "Epos des mexikanischen Volkes" auf 277 Quadratmetern. Ein gigantisches "Wimmelbild" im besten, bewundernswertesten Sinne erstreckt sich im Treppenhaus des Nationalpalasts.

"Das alte Mexiko" an der Nordwand wird dominiert vom sagenhaften Herrscher Quetzalcóatl, umgeben von zahlreichen weißgewandeten Männern und Frauen aus dem Volk der Tolteken. Jede Person geht einem anderen Kunsthandwerk nach, musiziert oder tanzt - doch schon drängen aztekische Eroberer mit Flammen und Kriegsgerät ins Bild. An der langen Westwand folgt die Eroberung des Aztekenreichs durch die Spanier um Cortés, mit Gewehren und Kanonen schießen sie alles nieder, während ein Missionar sein Kreuz über einen erdolchten Indio hält. Generäle, Priester, Staatspräsidenten der unabhängigen Republik bevölkern das Bild, US-Truppen greifen an, Franzosen ebenso, immer wird irgendwo jemand ermordet, demonstrieren die Massen in der Mexikanischen Revolution für "Land und Freiheit" - kaum möglich, hier den Überblick zu behalten. Das Wandbild, das belehren soll, wirkt vor allem - überwältigend.

Monumentale Bilder - unkritische Texte

Und so auch dieser Band: Tagelang ließe sich blättern, um Diego Riveras Arbeiten ausgiebig zu würdigen, seine zahlreichen Geliebten, Musen und Ehefrauen auf den Bildern zu entdecken - darunter natürlich immer wieder Frida Kahlo in den unterschiedlichsten Rollen. Umso bedauerlicher, wie unkritisch, schlicht, lediglich beschreibend die kurzen Texte ausfallen.

Wohl kaum ein Verlagshaus ist besser geeignet für die Abbildung dieser Monumentalkunst als Taschen, das mit seinen XL-Kunstbildbänden Maßstäbe gesetzt hat. Doch um dieses Werk auch zu erklären und es in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen, braucht es noch mehr - mehr Forschung und mehr zeitlichen Abstand.

Diego Rivera Sämtliche Wandgemälde

von
Seitenzahl:
640 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Taschen
Bestellnummer:
978-3-8365-6894-4
Preis:
60 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 23.07.2023 | 16:20 Uhr

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