Stand: 05.07.2020 06:00 Uhr

Eine bildschöne Entführung in fremde Welten

von Andrea Schwyzer

Wann haben Sie das letzte Mal eine Karte in Händen gehalten? Wie lange ist es her, seit Sie mit dem Weltatlas auf den Knien ihre Reiseroute ausgetüftelt haben? Und welches Buch war das noch gleich, in dem diese wunderbare Karte zu finden war - mit Feen, Einhörnern und Trollen? Vielleicht waren Sie ja nie verrückt nach Karten - aber Sie werden es beim Lesen dieses bildschönen Buches: "Verrückt nach Karten", herausgegeben von Huw Lewis-Jones.

Eine weite Bucht, zerklüftet die Landschaft, die sie umgibt. Zwei Schlösser mit wehenden Fahnen. Eine Windmühle. Wikingerschiffe laufen aus dem kleinen Hafen aus. Da, ein Walross! Am Horizont eine riesige Wasserschlange. Über ihr schwebt ein fliegender Teppich. Ein Drache spuckt kugelrunde Rauchwolken aus - und jemand versucht, seinen ausgebüxten Esel einzufangen. Dies ist das Land, in dem Noggin regiert. Eine Fabelwelt auf zwei Buchseiten.

Auf jeder Seite ein neues Reich

Auf jeder weiteren Seite tut sich ein neues Reich auf: Berge ragen wie Stalagmiten aus dem Papier, Eisenbahnlinien schlängeln sich durch die Landschaft, Flüsse ergießen sich über die Ränder, bis ins Meer.

"Die Karte einer Insel hat etwas Perfektes an sich - mit ihrem aquamarinblauen Kissen, ihren wenigen Namen, ihren wellenförmigen Küstenlinien. Eine Inselkarte gibt Ihnen nur ganz wenig und bittet Sie, den Rest der Geschichte auszufüllen..." Leseprobe

Bevor Robert Louis Stevenson "Die Schatzinsel" schrieb, zeichnete er eine Karte. Eigentlich für seinen Stiefsohn. Eine Insel mit mehreren Landzungen, angedeuteten Sandbänken, einer Handvoll spitzer Hügel und viel Wald: "Und hier, im Herzen der Insel, beim blutroten Kreuz, befindet sich der Hauptteil des Schatzes." Diese fiktive Landschaft wollte irgendwann unweigerlich mit Charakteren gefüllt, mit einem Plot unterfüttert werden. Ähnlich beschrieb es "Herr der Ringe"-Erfinder Tolkien: "Ich begann wohlweislich mit einer Karte und machte die Geschichte passend." Einige Striche, Punkte und Schlangenlinien - und Frodo kann sich auf den Weg machen.

Mit Peter Pan auf einer Ziege reiten

Viele der Karten in diesem Band entführen in fiktive Welten: Wir reiten mit Peter Pan auf einer Ziege durch Kensington Garden, wandern vorbei am Hasenloch und den sechs Pinienbäumen zum Haus von Puh dem Bären, rudern mit Tim und Struppi über den Indischen Ozean, wo auf der anderen Seite ein Aasgeier auf uns wartet und machen dann in Mumintal Rast - dort, wo zwischen Palmen und Laubbäumen eine einladende Hängematte baumelt.

Ein Karten-Freak, Naturforscher und Entdecker als Herausgeber 

Herausgegeben hat dieses Buch ein Naturforscher und Entdecker: Huw Lewis-Jones. Ein Karten-Freak, natürlich, der mit acht Jahren seine erste Landschaft entworfen hat. Damals habe ein Lehrer ihm beigebracht, Länge und Breite des Schulhofs mit Schritten abzumessen und auf Papier zu zeichnen, berichtet er. "Was für eine Macht!"

Ein wenig selbstverliebt erzählt Lewis-Jones von seinen Romanen und Expeditionen. An dieser Stelle hätte die Leserin lieber mehr über die abgedruckten Karten und die Geschichten dahinter erfahren. Es kommen außerdem noch andere Künstlerinnen und Künstler zu Wort: Wir erfahren, wie sie für Hollywood Harry Potters mehrdimensionale "Karte des Rumtreibers" kreierten oder x-fach Mittelerde, die Heimat des kleinen Hobbits, zeichneten. Und natürlich waren sie alle schon immer von Karten fasziniert.

"Karten beflügeln meine Fantasie: Atlanten oder Ortslexika, Stadtpläne, Schlachtpläne voller Manöver und Strategien, Fantasy- und Genrekarten..."

"Karten sind für mich Wunder. Dafür gibt es einen simplen und recht peinlichen Grund. Mein Orientierungssinn ist grottenschlecht."

"Eine meiner Lieblingskarten - von der leider nur noch eine Kopie existiert - wurde irgendwann im 13. Jahrhundert im norddeutschen Ebstorf erstellt. Sie ist die größte Karte des Mittelalters und besteht aus 30 zusammengenähten Pergamentblättern. Eine mappa mundi." Leseprobe

Es sind auch historische Karten abgebildet: Zum Beispiel die Carta Marina, erstmals 1539 in Venedig veröffentlicht. Eine bunte, detailreiche Karte mit roten Schlangen, stolzen Hirschen, königlichen Wappen und Maul aufreißenden Seeungeheuern.

Der Band macht Lust auf Bücher - und aufs Zeichnen

Der Band "Verrückt nach Karten" macht bei dem ganzen "Namedropping" zum einen Lust auf Bücher: Auf Klassiker wie "Huckleberry Finn" und "Robinson Crusoe", aber auch auf weniger bekannte Geschichten. Zum anderen möchte man sofort den Stift in die Hand nehmen. Kann auch ich eine Welt erzeichnen? Mit Strichen, Punkten und Schlangenlinien? Vielleicht angefangen mit einer weiten Bucht - zerklüftet die Landschaft, die sie umgibt.

Verrückt nach Karten

von Huw Lewis-Jones (Hrsg.)
Seitenzahl:
256 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Hardcover, 167 Illustrationen, farbig, Deutsch
Verlag:
wbg Theiss
Bestellnummer:
978-3-8062-3931-7
Preis:
34,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 05.07.2020 | 16:20 Uhr

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