Bildband "Spitzbergen" von Paolo Verzone über das Leben im Eis
Mehr als 400 Inseln, Inselchen und Schären bilden zusammen die zu Norwegen gehörende Inselgruppe Spitzbergen. Wie ist das Alltagsleben dort? Mit dieser Frage ist der Fotograf Paolo Verzone im Auftrag des mare-Verlags losgezogen.
Weit ausgestreckt liegt er da, der Gletscher Lilliehöökbreen vor dem düster-grauen Bergmassiv. Schattenbedeckt ist der Großteil seiner zerklüfteten Oberfläche. Die Vorderkante des Eispanzers dagegen erstrahlt schneeweiß im Sonnenlicht und wie ein Prisma werfen die karstig-spitzen Grate an der Wasserkante das Licht bläulich-türkisfarben zurück. Eine mächtige Pracht - doch wer weiß, wie lange es dort noch so aussieht...
So weit sind wir schon, dass es kaum möglich ist, einfach nur die Schönheit der Natur zu bewundern, voller Ehrfurcht die Aura einer Fels-und-Eis-Insel wie Spitzbergen zu erspüren - und sei es nur über einen Bildband. Die Ehrfurcht wird zunehmend von Furcht verdrängt - Furcht vor der Antwort auf die Frage "wie lange noch?", die sich überall dort aufdrängt, wo Eis die Landschaft prägt.
"Die kalten Küsten" von Spitzbergen erwärmen sich
"Das warme Herz der Arktis" wird Spitzbergen genannt; angeblich deshalb, weil "der Golfstrom für ein auf diesen Breitengraden relativ mildes Klima sorgt", erklärt das Vorwort. Nur deshalb? Die Daten häufen sich, die beweisen, wie sehr sich die Arktis erwärmt, und damit auch die Inselgruppe im Nordpolarmeer, die die Norweger "Svalbard" nennen, zu Deutsch: "die kalten Küsten".
Kein Ort für Dauersiedler. Wer heutzutage hier lebt, geht im Schnitt nach sechs Jahren. Das warme Herz der Arktis kann kaum ein Herz erwärmen zu bleiben. Wer also verbringt hier ein paar kühle Jahre bei fünf Grad im Sommer, minus 30 Grad im Winter?
Barentsburg: Muffiger Sowjetcharme mit Lenin-Büste
Natalia stellt in der Näherei von Barentsburg Andenken für Touristen her. Garnrollen stehen auf dem Tisch, an dem die weißblonde Frau um die 50 an einer Nähmaschine arbeitet. Einige Zeichenstifte und Handarbeitsscheren in Töpfchen und zwei mickrige Grünpflanzen auf der Fensterbank des kleinen Arbeitszimmers mit gelbbrauner Wand warten darauf, von Natalia beachtet zu werden. Der russischen Bergarbeitersiedlung Barentsburg ist wenig Leben geblieben, nur etwas muffiger Sowjetcharme mit Lenin-Büste im Schnee und verlassenen Holzhäusern.
Nikolai Walentinowitsch Abramow ist Biologie- und Chemielehrer. In blauer Trainingsjacke posiert er kerzengerade vor der grünen Tafel, an der Wand rechts ein Plakat mit dem Periodensystem der Elemente, links ein Foto von Putin im Stile eines Politbüro-Kandidaten. Abramow schaut schicksalsergeben drein wie jemand, der auf verlorenem Posten ausharrt, weil ihm nun einmal nichts anderes übrig bleibt. 20 Kinder lernen noch an seiner Schule heißt es, 100 waren es früher einmal.
Portätfotos und Landschaftsbilder von Paolo Verzone
Es ist wahrlich kein Naturbildband, den Fotograf Paolo Verzone für den mare-Verlag erstellt hat. In Porträts liegt offenbar seine Stärke, und zwischen die Aufnahmen von leider sehr unspontan aufgestellten und sorgsam ausgeleuchteten Menschen sind immer wieder Landschaftsbilder eingefügt: Wolken über besonnten Berggipfeln und kabbeliger See, golden schimmerndes Mondlicht auf einer Eisfläche vor, nun ja, spitzen Bergen und Schlittenhunde, die neben ihren Hütten herumlaufen und ein wenig an den Eisenketten zerren, die sie noch halten, bevor es auf die nächste Touristenausfahrt geht.
Spitzbergen: Ort der Forschung und des Rohstoffabbaus
An Bord des Eisbrechers Svalbard absolvieren Kadetten der norwegischen Marine - männlich und weiblich - ihre Ausbildung. Junge Wissenschaftler sammeln Proben von Plankton oder Schnee, vermessen Luftschichten und Gletschereis. Für sie ist Spitzbergen ein Vorposten bei der Erforschung des Klimawandels. Für die Russen ist es ein Außenposten zum Rohstoffabbau.
Hart scheint das Leben hier für alle Bewohner zu sein: dunkel und kalt, stürmisch und unwirtlich. Die Bilder künden von Einsamkeit; sein Herz hat der Fotograf gewiss nicht an die Insel verloren. Immerhin meidet er Klischees: Der einzige Eisbär des Bildbands steht ausgestopft zwischen den Tischchen im Gemeinderaum der Kirche herum.
Spitzbergen
- Seitenzahl:
- 132 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Mit Texten von Martina Wimmer
- Verlag:
- mare
- Veröffentlichungsdatum:
- 15. März 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-86648-685-0
- Preis:
- 58,00 €