Stanislav Kochanovsky über die NDR Radiophilharmonie: "Das Beste vom Besten"
Der russische Dirigent Stanislav Kochanovsky wird ab der Spielzeit 2024/2025 Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie in Hannover. Im Interview spricht er über seine Pläne und über den Krieg in der Ukraine.
Herr Kochanovsky, herzlichen Glückwunsch zum neuen Job!
Stanislav Kochanovsky: Vielen Dank, ich bin sehr froh, hier zu sein.
Sie sind Anfang 40, haben schon große, berühmte Orchester dirigiert, etwa das Royal Concertgebouw, Orchestre de Paris, Philharmonia Orchestra und Israel Philharmonic. Jetzt haben Sie sich aber entschieden, nach Norddeutschland zu kommen und Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie zu werden. Was lockt sie?
Kochanovsky: Ich habe eine wunderbare Einladung erhalten und sie gerne angenommen. Ich habe die Freiheit genossen in den letzten Jahren, bin durch die ganze Welt gereist und habe viele tolle Orchester kennengelernt. Aber ich war auch immer froh, an Orte zurückzukommen, die ich schon kenne. Ich habe einige enge Verbindungen, etwa zum Orchestre de Paris, zu Santa Cecilia, zum Rotterdam Philharmonic und zu anderen, wo ich beinahe jede Saison dirigere. Ich habe das Gefühl, dass gerade ein guter Zeitpunkt für mich ist, ein Zuhause, eine Basis zu finden. Es sind schon einige Einladungen gekommen, aber ich habe auf die richtige gewartet, wo auf beiden Seiten Liebe ist. Und das war die der Radiophilharmonie - das Beste vom Besten.
Bis jetzt haben Sie das Orchester erst ein einziges Mal dirigiert, letztes Jahr im Juni mit Werken von Borodin und Tschaikowsky. Das muss ja dann so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Wie war das?
Kochanovsky: Das war absolut perfekt für mich. Da stimmte einfach die Chemie. Ich werde das nie vergessen - das Debüt im Großen Sendesaal in Hannover. Vielleicht sollten Sie besser die Musiker fragen, was die denken. Aber ich bin stolz, dass sich die Musiker und Musikerinnen für mich entschieden haben - mit einer großen Mehrheit. Ich denke, ich werde natürlich nicht der einzige Kandidat gewesen sein. Ich vergleiche das immer mit einer Ehe. Man weiß vorher nicht, ob sie glücklich wird, oder ob man sich in einem oder in drei, vier oder fünf Jahren wieder scheiden lässt. Ich hoffe einfach, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir haben fantastische Pläne für die Zukunft. Aber die Zeit wird es zeigen, wie gut wir gemeinsam funktionieren.
Was macht Sie optimistisch, dass das eine gute Partnerschaft, eine gute Ehe werden kann?
Kochanovsky: Das Orchester ist in Topform. Wir haben alles, was wir brauchen: zwei tolle Säle, in denen wir spielen können. Ich habe gelesen, der Kuppelsaal der Stadthalle Hannover ist der größte Konzertsaal in Deutschland. Da können wir Oratorien aufführen oder auch große Sinfonien, die viel Raum brauchen. Wir haben große Pläne. Ich selbst bin ein Perfektionist. Das heißt: Ich will immer das beste Ergebnis, egal, wo ich gerade arbeite. Das kann eine Kleinstadt in Süditalien sein oder eine Metropole wie Paris, Rom oder London. Ich versuche, das Beste aus dem herauszuholen, womit ich es gerade zu tun habe. Aber das ist natürlich immer ein Dialog mit den Musikerinnen und Musikern. Ich muss ihnen den Raum und die Sicherheit geben, dass sie auf der Bühne glänzen und im richtigen Augenblick das Beste zeigen können.
Welche konkreten Pläne haben Sie mit dem Orchester?
Kochanovsky: Ich fange als Chefdirigent erst in der Saison 2024/25 an. Das heißt, im Moment überlegen wir noch. Ich kann also noch nicht wirklich etwas sagen, weil vieles noch nicht feststeht. Von meiner Seite aus kann ich sagen: Wir werden viel Unterschiedliches ausprobieren. Als Musiker aus Russland möchte ich gerne so etwas wie die St. Petersburger Tradition mit einbringen, und zwar nicht nur die ganz bekannten Werke. Jeder kennt die Sinfonien 4, 5 und 6 von Tschaikowsky - aber was ist mit den ersten dreien? Oder mit völlig vergessenen Werken wie der "Schneeflöckchen"-Schauspielmusik, mit "Hamlet" oder den wunderbaren Orchestersuiten? Es ist wirklich erstaunlich, wie viel schöne Musik von großen Komponisten momentan überhaupt nicht gespielt wird. Einen weißen Fleck habe ich auch bei Skrjabin gefunden. Den werden wir auf jeden Fall auffüllen. Und vieles, vieles mehr. Wir planen etwa die Nullte Sinfonie von Bruckner. Außerdem fühle ich mich auch verpflichtet, jungen Komponisten und Komponistinnen eine Chance zu geben. Als Rundfunkorchester haben wir die Möglichkeit, vieles zu archivieren. Aber ein Orchester ist kein Museum! Natürlich freuen sich alle, die Brahms-Sinfonien zu hören, die Beethoven- oder Mozart-Sinfonien - und die werden wir natürlich spielen. Aber ich finde, es ist wichtig, ein Orchester aus verschiedenen Winkeln zu betrachten und mit unterschiedlichem Repertoire zu arbeiten.
Sie haben eine Vorliebe fürs russische Repertoire. Sie sind in Sankt Petersburg geboren, haben dort auch studiert. Mit Sicherheit schauen Sie auch genau hin, was gerade in Russland und in der Ukraine passiert. Seit mittlerweile 16 Monaten führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wie stehen Sie zu diesem Krieg?
Kochanovsky: Das ist ein sehr schwieriges Thema. Unglücklicherweise neigt Geschichte dazu, sich zu wiederholen. Als Person, als Mensch bin ich gegen jede Art von Aggression. Und dieser schreckliche Angriff auf die Ukraine ist ein absurder, gewalttätiger Akt, der schon viele tausend Tote gefordert und millionenfach Leben ruiniert hat - in beiden Ländern. Ich habe die schwere Entscheidung getroffen, erst einmal nicht mehr in Russland zu arbeiten. Ich bin Russe und werde das immer bleiben. Aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft in beiden Ländern. Und ich hoffe, dass möglichst bald wieder Frieden einkehrt.
Sie werden Chefdirigent in Hannover mit Beginn der übernächsten Spielzeit, also 2024/2025. Wann können wir Sie denn in Norddeutschland in der nächsten Zeit schon mal erleben?
Kochanovsky: Meine Familie und ich sind nach Deutschland gezogen - das ist ab jetzt unser Zuhause. Und schon in der nächsten Saison werde ich ein paarmal mit dem Orchester auftreten: beim großen Bartók-Festival in Hamburg, dann haben wir einige Konzerte außerhalb von Hannover, etwa in Lübeck. Da wird einiges passieren. Für die Saison darauf, wenn ich hier wirklich anfange, habe ich nur sehr wenige Gastdirigate angenommen. Ich möchte möglichst präsent sein. Diese neue Mode, ein Orchester zu haben, aber dort nur vier oder fünf Mal im Jahr aufzutauchen, funktioniert für mich nicht. Jemand, der mehrere Orchester hat und immer nur von Ort zu Ort hastet, der kann meiner Meinung nach keinen wirklichen Einfluss ausüben. Ich würde wirklich gerne sehr konzentriert am Klang des Orchesters arbeiten. Viele gute Orchester heutzutage klingen sehr ähnlich. Dem Orchester zu ermöglichen, seine eigene Stimme zu finden, als NDR Radiophilharmonie unverkennbar zu werden, das ist die Arbeit eines Dirigenten. Davon bin ich überzeugt.
Nachdem Sie das Orchester schon ein bisschen kennen: Was könnte das für eine Stimme sein?
Kochanovsky: Das ist harte Arbeit. Das kann ich nicht wirklich mit Worten erklären. Aber ich denke, dass die tägliche gemeinsame Arbeit ein gutes Orchester ausmacht. Der Kontakt zwischen dem Dirigenten und den Musikerinnen und Musikern - das ist so etwas wie eine große Familie, das ist Teamwork. Ich bin wirklich sehr froh, demnächst ein Teil davon sein zu können, und hoffe, dass wir eine fantastische gemeinsame Zukunft vor uns haben.
Das Interview führte Franziska von Busse.