Proust-Effekt: Warum versetzen uns Gerüche in unsere Kindheit zurück?
Gerüche können Erinnerungen in uns aufsteigen lassen. Warum das so ist, damit beschäftigt sich die Psychologie-Professorin Christina Bermeitinger an der Universität Hildesheim als Teil ihrer olfaktorischen Forschung.
In der Gedächtnisforschung heißt dieses Erlebnis Proust-Phänomen, angelehnt an die berühmte Madeleine-Episode aus Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"; hier fühlt sich der Ich-Ezähler im ersten Band beim zeitgleichen Genuss eines Madeleine-Gebäcks und eines Tees dem Alltag enthoben.
Frau Bermeitinger, gibt es bei Ihnen einen bestimmten Geruch, der Sie immer wieder an die Kindheit erinnert?
Christina Bermeitinger: Das tatsächlich schon, aber nicht an ein einzelnes Ereignis. Es gibt zwei, drei Gerüche, die mich an besondere Situationen aus der Kindheit erinnern, aber das ist eher so eine Ansammlung von Situationen und nicht eine einzelne, wie das bei Proust in der Madeleine-Episode der Fall war.
Warum funktioniert das gerade mit Gerüchen so gut, dass wir irgendeinen Duft in die Nase bekommen und sich plötzlich im Gehirn Welten vor uns auftun?
Bermeitinger: Das können wir noch gar nicht so genau beantworten. Ein Teil der Antwort ist sicherlich die besondere Kopplung im Gehirn, wie Gerüche verarbeitet werden im Vergleich zu anderen Reizen, zum Beispiel aus dem Bereich Sehen oder dem Bereich Hören. Diese besondere Kopplung führt dazu, dass Gerüche eher im Hintergrund wirken, nicht so bewusst wie andere Reize, und dadurch eine besondere Macht entfalten können. Zum anderen gibt es auch eine enge Nähe zu der Amygdala - das ist die Stelle im Gehirn, wo die emotionale Verarbeitung ganz präsent passiert.
Also sind Gerüche immer sehr emotionale Reize für uns?
Bermeitinger: Ja, Gerüche sind für uns sehr emotionale Reize. Das ist auch ein weiterer Teil der Antwort. Eventuell ist es so, dass der Moment, in dem wir etwas riechen, für uns so emotional ist, dass wir dann auch die Erinnerungen, die durch den Geruch ausgelöst werden, wieder als besonders emotional erleben. Eventuell ist es aber so, dass nicht die ursprüngliche Erinnerung so emotional, so besonders war, sondern dass es durch den Geruch, der im Moment des Wiedererinnerns vorhanden ist, die besondere Emotionalität erhält.
Wie konkret erforschen Sie all das? Haben Sie einen Probanden, der an etwas riechen muss?
Bermeitinger: Ja, im Prinzip genau so. Wir haben eine ganze Bandbreite an Methoden und Techniken, um das zu realisieren. Aber wir sind auf die Mithilfe von teilnehmenden Personen angewiesen. Wir probieren das alles selber aus, aber grundsätzlich brauchen wir eine große Zahl an Menschen, die an etwas schnuppern, entweder bewusst oder auch im Hintergrund - beispielsweise beduften wir einen ganzen Raum durch verschiedene Methoden. Wir halten den Leuten irgendwas unter die Nase - das kann ein Reagenzglas sein oder irgendein Papierstreifen. Wir haben auch zwei Olfaktometer, mit denen wir ganz gezielt und von der Konzentration präzise zu einem Zeitpunkt einen Geruch präsentieren können.
Sie haben vor ein paar Jahren gesagt, die Forschung zu dem Proust-Phänomen stecke noch in den Kinderschuhen. Ist das nach wie vor so? Was könnte sich da noch offenbaren?
Bermeitinger: Das ist tatsächlich immer noch Pioniergebiet. In vielen Bereichen der Psychologie ist es so, dass man diese Phänomene seit Jahrzehnten gut erforscht, aber die Forschung zu Gerüchen ist da immer noch eine Ausnahme. Was könnte sich hier offenbaren? Zum einen gibt es nach wie vor die Frage, wofür überhaupt der Geruchssinn bei Menschen da ist. Dazu könnte das Proust-Phänomen und die Forschung weiter beitragen.
Das Interview führte Jan Wiedemann.