Philosophin Frick: Was wir heute noch von Kant lernen können
Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, wurde Immanuel Kant in Königsberg geboren. Berühmt ist sein kategorischer Imperativ. Was er uns heute noch zu sagen hat, erzählt Philosophie-Professorin Marie-Luisa Frick von der Universität Innsbruck im Interview.
Frau Frick, "habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" ist eine berühmte Maxime von Kant, unter der heute allerdings auch immer mehr Menschen für ein rechtes Weltbild kämpfen. Wie ist das gekommen, dass dieser Leitsatz der Aufklärung zur Parole von Populisten wurde?
Marie-Luisa Frick: Das ist schon eine sehr merkwürdige und auch tragische Eventualität, die zurückverweist darauf, wie man 'selbst denken' falsch verstehen kann. 'Selbst denken' - falsch verstanden, heißt: dass ich mir alleine mein Weltbild zimmere, ohne mich in einen öffentlichen Diskurs zu begeben. Wenn ich mich abschotte und nur noch unter Gleichgesinnten meine eigene Weltsicht propagiere und reproduziere, ohne irgendwie von außen angestoßen, korrigiert oder befruchtet zu werden. Kant war es sehr wichtig, dass wir öffentlichen Vernunftgebrauch üben, das heißt gemeinsam debattieren, diskutieren, widersprechen und uns mit Argumenten gegenseitig etwas Neues zeigen.
Bei großen gesellschaftlichen Debatten hat man sich auch auf diesen Mut des Selbstdenkens berufen. Wenn man beispielsweise an das Impfen denkt. Wer hat da vielleicht etwas missverstanden?
Frick: Es ist schon wichtig, dass wir Autoritäten kritisch befragen und nicht blind Gehorsam leisten. Das ist ein ganz wichtiges Erbe dieser aufklärerischen Ethik, der epistemischen Autorität. Wem trauen wir, wem vertrauen wir? Wem folgen wir auch in Ratschlägen? Das dürfen wir nicht einfach ungeprüft machen. Das Problem ist aber, dass viele manche Autoritäten in den Himmel loben und anderen quasi absprechen, irgendetwas beizutragen zur Klärung einer Frage.
Das Problem ist aus meiner Sicht, dass wir sehr unreflektiert Kritik üben - an manchen Protagonisten der Wissenschaft, der Medien, der scheinbaren Eliten, aber andererseits dann unsere eigenen Autoritäten umso unkritischer ins Feld führen. Es wäre wichtig, umfassend kritisch zu sein: sowohl gegenüber etablierten Medien als auch gegenüber neuen Medien und Menschen, die Propaganda für ihre Sache machen.
Sie sehen auch Medien in der Verantwortung. Sie sprechen von der falschen Ausgewogenheit. Was meinen Sie genau damit?
Frick: Es gibt nicht die eine Wahrheit, und niemand weiß alles. Aber es haben sehr selten beide Seiten oder alle Seiten einer Kontroverse gleich recht. Es ist unangebracht, bei einem Konflikt die Widersacher so darzustellen, als wäre es eine 50-50-Chance. Oder bei wissenschaftlichen Kontroversen, als wären hier zwei gleichwertige Meinungen vorliegend - während in vielen Fällen eine wissenschaftliche Mehrheitsmeinung besteht und eine Minderheitsmeinung ihr gegenübersteht.
Was auch nicht bedeutet, dass die Mehrheitsmeinung auf lange Sicht Bestand haben muss. Aber es ist fair, dann auch zu sagen, 'das ist jetzt eher eine Außenseiterposition'. Einfach nur zwei Leute in den Ring zu schicken, gibt ein falsches Bild, eine 'false balance'.
Was hätte Kant zu dem russischen Krieg in der Ukraine gesagt oder dem Konflikt in Nahost? Einen reinen Pazifisten kann man ihn, glaube ich, nicht nennen, oder?
Frick: Er war kein reiner Pazifist. Aber er war jemand, der Kriege, bis auf Verteidigungskriege, abgelehnt hat. In seiner berühmten Schrift zum ewigen Frieden hat er die Bedingungen für den Weltfrieden statuiert. Er hat die Abschaffung der stehenden Heere und die Abschaffung von Feindseligkeiten, die auch einen zukünftigen Frieden verunmöglichen, vorgeschlagen.
Da er selbst aus Königsberg stammt, beziehungsweise dort den großen Teil seines Lebens verbracht hat, würde er sehr unglücklich auf das heutige Kaliningrad, Russland und den Ukraine-Krieg blicken. Sehr betrübt und schockiert natürlich auf Israel und Palästina blicken, wo wir viele Fälle von Verletzung der Menschenwürde sehen. Die Menschenwürde war für Kant der Grundstein seiner praktischen Philosophie. Sie bedeutet in seinem Sinn, dass sich andere Menschen immer als Selbstzweck ansehen sollten, niemals als Mittel zu irgendwelchen Zwecken. Ich darf nicht einfach verrechnen, ich darf nicht einfach Opfer in Kauf nehmen, um meine Ziele zu erreichen, ohne Vorkehrungen zu treffen.
Aber liest man bei Kant nicht auch von einem moralischen Recht, sich zu verteidigen?
Frick: Ja, das moralische Recht, sich zu verteidigen, ist bekannt. Das einzige Recht, das zu einem Waffengebrauch taugt. Nur dieses Recht hat diese wichtigen Grenzen der Humanität. Es gibt viele Völkerrecht-Theoretiker vor ihm, vor allem Hugo Grotius und auch Samuel Pufendorf, die dieses Prinzip der Humanität im Krieg schon viele hundert Jahre vor ihm argumentiert haben.
Die Kritik der reinen Vernunft stellt die Erkenntnisse des Menschen in den Mittelpunkt, die Wahrnehmung der Wirklichkeit im Gegensatz zu einer rein erdachten oder nachgewiesenen Wirklichkeit. Das erscheint ein immer noch sehr moderner Gedanke, oder?
Frick: Ja, Kant hat uns mit seiner kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie einiges vorgelegt, an dem wir uns abarbeiten können. Dass wir uns loslösen von einem naiven Bild, dass uns die Wirklichkeit gegeben ist.
Aufgeklärter wäre es zu verstehen, dass wir selbst Teil des Erkenntnisprozesses sind. Dass die Welt für uns nicht einfach ist, wie sie ist, sondern uns eben erscheint. Dadurch, dass wir Kategorien des Verstandes, Wahrnehmungsformen wie Raum und Zeit haben, die diese Welt vorkonstruieren und für uns erst in einer bestimmten Weise wahrnehmbar machen.
Das ist sehr abstrakt. Aber wenn wir uns vorstellen, wie die Welt für ein Wesen aussieht, das nicht von diesem Planeten stammt, das nicht unsere Sinnesorgane hat, dann erschließt es sich. Vielleicht werden wir als Menschheit irgendwann andere Wesen treffen. Kant hat übrigens darüber spekuliert, sehr positiv im Sinne von 'das ist möglich'. Die werden einen anderen Wahrnehmungsapparat haben. Für diese Wesen würde sich die Welt, die Wirklichkeit der Außenwelt, auch anders darstellen.
Bisweilen wurde Immanuel Kant verspottet als Stubenhocker, der zwar über die Welt schrieb, aber sie nicht wirklich kennengelernt hat, stimmt das eigentlich?
Frick: Königsberg war schon eine kosmopolitische Stadt. Er hat mit vielen Leuten korrespondiert und war sehr gesellig. Anders als manche glauben, war er nicht nur ein Stubenhocker, sondern ein sehr geselliger Mensch, der auch Mittagsrunden regelmäßig gepflogen hat, mit anderen Gelehrten und wichtigen Menschen aus der Stadt. Aber es stimmt: Kant ist nicht gereist, also nicht um die Welt gefahren wie andere zu dieser Zeit, hat sich selbst keine Eindrücke von anderen Kulturen erworben. Das ist vielleicht ein Hinweis, warum er bei manchen Fragen etwas problematisch erscheint. Es gibt ja die Kontroverse darüber, ob er ein Rassist war. Weil er eben doch sehr stark von diesem europäischen Königsberg aus die Welt verstehen wollte.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.