Niedersächsisches Staatsorchester bekommt Leitbild
Das Niedersächsische Staatsorchester ist in die Archive gegangen, um die letzten 100 Jahre seiner Geschichte zu erforschen. Oder vielmehr das Jahr 1918 mit dem Jahr 2018 zu vergleichen und sich zusätzlich ein Leitbild zu geben. Ein Gespräch mit Philipp Kohnke aus dem Orchestervorstand.
Herr Kohnke, das Opernorchester hat sich ein Leitbild gegeben - was heißt das genau?
Philipp Kohnke: Es ist schon fast zwei Jahre her, dass wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen. Wir haben uns Fragen gestellt, die man sich im Orchester-Alltag nicht unbedingt stellt: Was macht uns aus als Klangkörper? Wie unterscheiden wir uns von anderen Orchestern? Wir haben uns also auf den Weg gemacht, uns als Orchester zu definieren.
Die Ausstellung "Vorzüglich im Graben. Alltag und Aufbruch im Opernorchester" wurde gestern feierlich im Opernhaus eröffnet. Es geht um den Vergleich zwischen den Jahren 1918, also Novemberrevolution, und 2018. Wie kam diese Ausstellung und diese Idee zustande?
Kohnke: Eine der ersten Fragen auf diesem Weg war natürlich die Frage nach unserer Geschichte: Wo kommen wir her? Wir haben angefangen, uns mit unserer interessanten, fast 400-jährigen Geschichte zu beschäftigen und haben schnell gemerkt, dass das eine riesige Inspirationsquelle ist, auch für die Identität von heute. Ich fragte Professor Stefan Weiss von der Musikhochschule Hannover, ob er nicht Interesse hätte, mit seinen Studenten ein bisschen nachzuforschen. Es wurde von ihm ein Seminar eingerichtet, und alles Weitere hat sich im Laufe dieser Seminararbeit ergeben.
Wir haben das gegliedert in: wir, warum und wie. Das "wir" beschreibt ganz faktisch, was für ein Orchester wir sind, dass wir beispielsweise das größte Orchester Niedersachsens sind, und was für eine Rolle wir in dem Haus spielen. Und da wird es schon interessant: Was macht man als Orchester in diesem Opernhaus hauptsächlich? Oper spielen. Es ist schon etwas wert, sich das als Orchester auch mal zu sagen: Wir sind ein Orchester, was vornehmlich Opern spielt und was auch die Kernkompetenz Oper hat. Das soll nicht die Sinfoniekonzert-Reihe und alle weiteren Dinge, die wir sonst tun, schmälern - die wollen wir natürlich auch weiterhin auf hohem Niveau machen. Es bedingt sich auch, dass man immer wieder auch mal aus dem Graben herauskommt und sich vergewissert, dass man auch andere Dinge gut kann. Aber es war ganz wichtig, sich als Opernorchester einmal ganz explizit zu sagen, dass wir ein Opernorchester sind und dass wir das am besten können.
Wenn man sagt: "Im Graben" - dann hat das fast etwas Abwertendes. Wollte sich dieses Orchester dadurch auch ein bisschen mehr Selbstbewusstsein geben?
Kohnke: Ja klar. Und ich denke, auf diese Weise kann man das tun, indem man es umdefiniert und sagt, dass das keine Abwertung ist, Sänger gut zu begleiten - das ist ja eine hohe Kunst. Klar, das war ein wichtiger Punkt, dass wir diese Fragen einfach mal aufwerfen und diese Dinge zum Thema machen, um uns selbst zu vergewissern, dass man sich mit diesen Kernkompetenzen nicht verstecken braucht - ganz im Gegenteil.
Auf der anderen Seite hat man schon die Frage im Kopf, warum es eigentlich nötig ist, dass man beispielsweise aufschreibt: "Wir sind aktive Botschafter einer für alle Menschen wertvollen musikalischen Kultur." Das ist doch für ein Orchester und das Selbstverständnis eines Orchesters selbstverständlich, oder?
Kohnke: Ja. Gerade als Orchester in diesem Opernhaus hat man immer noch mit diesem Gedanken des Elitären zu kämpfen, der in der Gesellschaft immer noch vorhanden ist. Man versucht mehr denn je dieses Klischee ungültig zu machen. Aber ich glaube, es ist schon wichtig, dass man immer wieder sich und anderen klarmacht, das diese Musik, die wir da machen, einladend ist, dass sie jeden betrifft und dass jeder herzlich willkommen ist, sich damit zu beschäftigen. In dem Prozess sind wir wahrscheinlich nie am Ende und müssen immer weiter dafür werben.
Wie stehen ihre Kolleginnen und Kollegen zu dem Leitbild oder der Tatsache, dass es jetzt eines gibt?
Kohnke: Wir haben uns am Anfang vergewissert, dass das vom Orchester gewünscht ist. Es gibt viele Leitbilder, die der Belegschaft aufoktroyiert werden - hier war es genau anders: Die Idee kam aus dem Orchester, von uns. Es gab am Anfang ganz basisdemokratisch eine Abstimmung darüber. Es gab ja kein konkretes Ziel, sondern das war ein offener Weg, ohne zu wissen, wo er hinführt. Auf diesem langen Weg gab es immer wieder Zwischenstationen, wo man sich mit dem ganzen Orchester getroffen hat, um über die Zwischenergebnisse zu diskutieren.
Das stelle ich mir spannend vor.
Kohnke: Ja, das war eine ganz interessante Sache und allein logistisch ein ziemlich großer Aufwand, mit über 100 Menschen sinnvolle Treffen zu veranstalten, die über das Musizieren hinausgehen. Allein das war ein ganz wichtiger Aspekt dieser ganzen Leitbild-Entwicklung, dass man sich gemeinsam getroffen hat und mit Kollegen, mit denen man sonst nicht so viel zu tun hat, über wichtige Fragen diskutiert hat.
Das Interview führte Martina Kothe