Navid Kermani © imago
Navid Kermani © imago
Navid Kermani © imago
AUDIO: Buchautor Kermani: Kaum Auswege aus dem Nahost-Konflikt (7 Min)

Navid Kermani über den Nahost-Konflikt: "Kann kein gutes Ende nehmen"

Stand: 02.10.2024 16:38 Uhr

Nach den Raketenangriffen des Irans auf Israel wächst die Sorge um eine weitere Eskalation: Buchautor Navid Kermani sieht kaum Lösungsmöglichkeiten.

Navid Kermani hat einen deutschen und einen iranischen Pass und hat gerade zusammen mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider das Buch "Israel. Eine Korrespondenz" herausgebracht. Darin versuchen die beiden Freunde im Dialog über den Nahost-Konflikt zu sprechen.

Herr Kermani, Bundeskanzler Olaf Scholz hat gesagt, der Iran riskiere, die ganze Region in Brand zu setzen. Inwieweit befinden wir uns gerade an einem Kipppunkt in diesen Nahost-Konflikt?

Navid Kermani: Der Kipppunkt ist schon längst erreicht. Er war vorher schon erreicht, aber spätestens als klar war, dass die Konfliktparteien keinen Waffenstillstand wollen, dass gerade die israelische Regierung alles tut, um diesen Waffenstillstand zu verhindern. Die natürliche Konsequenz ist, dass die Lage immer weiter eskaliert. Insofern ist der Iran beteiligt, die Hisbollah, die Hamas, aber auch auf israelischer Seite gibt es im Augenblick kein Interesse daran, die Geiseln zu retten und irgendwie zu einer Verständigung zu kommen.

Weitere Informationen
Rauchschwaden steigen zwischen den Trümmern von Gebäuden auf, die bei einem israelischen Luftangriff auf einen südlichen Vorort von Beirut zerstört wurden. © dpa Foto: Marwan Naamani

Israel setzt Angriffe auf Hisbollah fort

Die Luftwaffe bombardierte erneut südliche Vororte von Beirut. Auch die Bodenoffensive geht weiter. Mehr bei tageschau.de. extern

Sie kritisieren die deutsche und die europäische Iran-Politik. Was kritisieren Sie daran genau?

Kermani: Zunächst einmal kritisiere ich, dass es eigentlich gar keine konsistente europäische Iran-Politik gibt, wie es überhaupt keine konsistente europäische Außenpolitik gibt. Es gibt seit mittlerweile 20 Jahren dramatische Krisen unmittelbar vor der europäischen Haustür - der Krieg in Syrien, die Flüchtlingskrise, das Desaster in Afghanistan -, und diejenigen, die überhaupt keinen Zugriff haben, sind ausgerechnet die nächsten Nachbarn, also wir. Wir schwächen uns selbst, indem wir Europa schwächen. Was konkret die deutsche Iran-Politik betrifft: Menschen wie ich sagen seit vielen Jahren, dass das Stabilitätsdenken mit einem Regime, das die ganze Region in Unruhe stürzt, das im Innersten vollkommen morsch und brüchig geworden ist durch Inlandsproteste, zu maximaler Instabilität führt. Das Hoffen, dass der Iran doch noch zu einem Partner wird, der womöglich irgendwann noch Gas verkauft, das ist etwas, was sich ein ums andere Mal bitter rächt. Auch in der jetzigen Krise sehen wir, dass Iran weit entfernt davon ist, einen beruhigenden Einfluss auf die Dinge auszuüben, von Demokratisierung ganz zu schweigen.

Andererseits haben Sie auch gesagt, dass Israel gar kein Interesse daran hat, das Ganze zu beenden. Momentan kämpft Israel an vier Fronten: Gaza, Libanon, Jemen und Iran. Was kann da noch kommen?

Kermani: Zunächst einmal ist es nicht ganz Israel, das kein Interesse hat. Es gibt gewaltige Demonstrationen in Israel für einen Waffenstillstand, für einen Deal mit der Hamas. Aber die jetzige Regierung mit ihren rechtsextremen Ministern hat etwas anderes vor. Meine Befürchtung ist, dass wenn gesagt wird, dass das ein "totaler Krieg" sei oder man wolle den "totalen Sieg", dann ist genau das auch gemeint. Das ist eine Befürchtung für alle Menschen in der Region, aber meine Furcht betrifft auch die Menschen in Israel. Denn was für ein Frieden soll das denn sein? Da muss man doch nur warten auf die nächste Generation von Kämpfern, die noch verbitterter, noch deprimierter, noch gewaltbereiter ist. Wir hören seit 20, 30 Jahren, eigentlich seit Ariel Scharon, dass nur maximale Stärke, maximale Härte Sicherheit bewirken wird - und das Ergebnis ist maximale Unsicherheit. Das steigert sich doch immer nur. Israel ist militärisch ungleich stärker, aber mittelfristig, langfristig gesehen ist es eine Katastrophe für die Menschen in Israel, wenn sich das Land in der Region derart isoliert, wenn es gegen eine komplette Nachbarschaft zu bestehen versucht. Und zweitens, wenn es sich auch nach innen so verhärtet, dass es das, was es einmal ausgemacht hat, seine Liberalität und Pluralität, aufgibt. Wenn diese Regierung mit dem, was sie da macht, durchkommt, wenn die Geiseln einfach geopfert werden, dann setzt sich diese extrem nationalistische Politik durch auch zum Schaden der israelischen Bürger. Es wird keine Sicherheit geben mit einer Politik, die nur auf auf Gewalt setzt.

Weitere Informationen
Ein Porträtbild von Schriftsteller und Buchautor Navid Kermani. © dpa Foto: Oliver Berg

Thomas-Mann-Preis 2024 geht an Schriftsteller Navid Kermani

Kermanis Erzählungen und Romane würden sich unter anderem durch tiefgehende literarische Reflexionen auszeichnen, so die Jury. mehr

Was für eine Politik könnte es denn sein, die aus dieser Verbitterungsspirale rausführt?

Kermani: Ich kann Ihnen kein langfristiges Szenario anbieten - das gibt es gar nicht. Es gibt nur den nächsten Schritt, und das ist der Waffenstillstand, die Befreiung der Geiseln, das, was die ganze Welt sagt.

Für wie wahrscheinlich halten Sie das?

Kermani: Die einzigen, auf die man hoffen durfte, waren die Vereinigten Staaten, weil sie die einzigen sind, die über Machtinstrumente verfügen. Sie sind aber offenbar nicht bereit, die entsprechend einzusetzen. Insofern war ich sehr pessimistisch und bin es jetzt erst recht. Das kann kein gutes Ende nehmen, für niemanden in der Region, außer vielleicht für die politischen Herrscher im Iran oder in Israel, die sich damit noch ein paar Jahre erkaufen.

Was müsste also passieren? Wer könnte doch noch Verhandlungen führen?

Kermani: Wie gesagt, die einzigen, die in der Lage wären, den Hebel umzulegen, waren die Vereinigten Staaten. Sie versuchen ja auch alles; man kann ja nicht sagen, dass sie nicht bemüht seien. Das Ergebnis ist: Sie sind nicht in der Lage gewesen, den Waffenstillstand zu erzwingen. Insofern muss man die Hoffnung auf ein Wunder verlagern. Denn so wie es jetzt aussieht, weitet sich die Katastrophe immer noch weiter aus.

Das Gespräch führte Franziska von Busse.

Weitere Informationen
Der Schriftsteller Navid Kermani. © dpa

Unser Obama

Navid Kermani wird als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt. Eine Provokation? Er könnte die längst überfällige Antwort der Demokraten auf die AfD sein. Ein Kommentar von Kaveh Kooroshy. mehr

Ein Mann mit grau-meliertem Haar und kleiner Brille blickt in die Kamera. Er steht in einem Fernsehstudio und trägt ein hellblaues Hemd unter einem karierten Sakko. © picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Navid Kermani: "Grundgesetz hat wirklichkeitsschaffende Macht"

Vor zehn Jahren hat Navid Kermani eine bewegende Rede zum Grundgesetz vor dem Bundestag gehalten - zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes spricht er bei NDR Kultur. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 02.10.2024 | 17:15 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Lesesaal der Hamburger Öffentliche Bücherhalle, Kohlhöfen 21, im Jahr 1913 © Hamburger Öffentliche Bücherhallen

Bücher für alle: 125 Jahre Öffentliche Bücherhallen in Hamburg

Im Kaiserreich will eine frühe Bürgerinitiative mehr Bildung für alle. Am 2. Oktober 1899 eröffnet Hamburgs erste Bücherhalle. mehr