Navid Kermani über den Nahost-Konflikt: "Kann kein gutes Ende nehmen"
Nach den Raketenangriffen des Irans auf Israel wächst die Sorge um eine weitere Eskalation: Buchautor Navid Kermani sieht kaum Lösungsmöglichkeiten.
Navid Kermani hat einen deutschen und einen iranischen Pass und hat gerade zusammen mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider das Buch "Israel. Eine Korrespondenz" herausgebracht. Darin versuchen die beiden Freunde im Dialog über den Nahost-Konflikt zu sprechen.
Herr Kermani, Bundeskanzler Olaf Scholz hat gesagt, der Iran riskiere, die ganze Region in Brand zu setzen. Inwieweit befinden wir uns gerade an einem Kipppunkt in diesen Nahost-Konflikt?
Navid Kermani: Der Kipppunkt ist schon längst erreicht. Er war vorher schon erreicht, aber spätestens als klar war, dass die Konfliktparteien keinen Waffenstillstand wollen, dass gerade die israelische Regierung alles tut, um diesen Waffenstillstand zu verhindern. Die natürliche Konsequenz ist, dass die Lage immer weiter eskaliert. Insofern ist der Iran beteiligt, die Hisbollah, die Hamas, aber auch auf israelischer Seite gibt es im Augenblick kein Interesse daran, die Geiseln zu retten und irgendwie zu einer Verständigung zu kommen.
Sie kritisieren die deutsche und die europäische Iran-Politik. Was kritisieren Sie daran genau?
Kermani: Zunächst einmal kritisiere ich, dass es eigentlich gar keine konsistente europäische Iran-Politik gibt, wie es überhaupt keine konsistente europäische Außenpolitik gibt. Es gibt seit mittlerweile 20 Jahren dramatische Krisen unmittelbar vor der europäischen Haustür - der Krieg in Syrien, die Flüchtlingskrise, das Desaster in Afghanistan -, und diejenigen, die überhaupt keinen Zugriff haben, sind ausgerechnet die nächsten Nachbarn, also wir. Wir schwächen uns selbst, indem wir Europa schwächen. Was konkret die deutsche Iran-Politik betrifft: Menschen wie ich sagen seit vielen Jahren, dass das Stabilitätsdenken mit einem Regime, das die ganze Region in Unruhe stürzt, das im Innersten vollkommen morsch und brüchig geworden ist durch Inlandsproteste, zu maximaler Instabilität führt. Das Hoffen, dass der Iran doch noch zu einem Partner wird, der womöglich irgendwann noch Gas verkauft, das ist etwas, was sich ein ums andere Mal bitter rächt. Auch in der jetzigen Krise sehen wir, dass Iran weit entfernt davon ist, einen beruhigenden Einfluss auf die Dinge auszuüben, von Demokratisierung ganz zu schweigen.
Andererseits haben Sie auch gesagt, dass Israel gar kein Interesse daran hat, das Ganze zu beenden. Momentan kämpft Israel an vier Fronten: Gaza, Libanon, Jemen und Iran. Was kann da noch kommen?
Kermani: Zunächst einmal ist es nicht ganz Israel, das kein Interesse hat. Es gibt gewaltige Demonstrationen in Israel für einen Waffenstillstand, für einen Deal mit der Hamas. Aber die jetzige Regierung mit ihren rechtsextremen Ministern hat etwas anderes vor. Meine Befürchtung ist, dass wenn gesagt wird, dass das ein "totaler Krieg" sei oder man wolle den "totalen Sieg", dann ist genau das auch gemeint. Das ist eine Befürchtung für alle Menschen in der Region, aber meine Furcht betrifft auch die Menschen in Israel. Denn was für ein Frieden soll das denn sein? Da muss man doch nur warten auf die nächste Generation von Kämpfern, die noch verbitterter, noch deprimierter, noch gewaltbereiter ist. Wir hören seit 20, 30 Jahren, eigentlich seit Ariel Scharon, dass nur maximale Stärke, maximale Härte Sicherheit bewirken wird - und das Ergebnis ist maximale Unsicherheit. Das steigert sich doch immer nur. Israel ist militärisch ungleich stärker, aber mittelfristig, langfristig gesehen ist es eine Katastrophe für die Menschen in Israel, wenn sich das Land in der Region derart isoliert, wenn es gegen eine komplette Nachbarschaft zu bestehen versucht. Und zweitens, wenn es sich auch nach innen so verhärtet, dass es das, was es einmal ausgemacht hat, seine Liberalität und Pluralität, aufgibt. Wenn diese Regierung mit dem, was sie da macht, durchkommt, wenn die Geiseln einfach geopfert werden, dann setzt sich diese extrem nationalistische Politik durch auch zum Schaden der israelischen Bürger. Es wird keine Sicherheit geben mit einer Politik, die nur auf auf Gewalt setzt.
Was für eine Politik könnte es denn sein, die aus dieser Verbitterungsspirale rausführt?
Kermani: Ich kann Ihnen kein langfristiges Szenario anbieten - das gibt es gar nicht. Es gibt nur den nächsten Schritt, und das ist der Waffenstillstand, die Befreiung der Geiseln, das, was die ganze Welt sagt.
Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Kermani: Die einzigen, auf die man hoffen durfte, waren die Vereinigten Staaten, weil sie die einzigen sind, die über Machtinstrumente verfügen. Sie sind aber offenbar nicht bereit, die entsprechend einzusetzen. Insofern war ich sehr pessimistisch und bin es jetzt erst recht. Das kann kein gutes Ende nehmen, für niemanden in der Region, außer vielleicht für die politischen Herrscher im Iran oder in Israel, die sich damit noch ein paar Jahre erkaufen.
Was müsste also passieren? Wer könnte doch noch Verhandlungen führen?
Kermani: Wie gesagt, die einzigen, die in der Lage wären, den Hebel umzulegen, waren die Vereinigten Staaten. Sie versuchen ja auch alles; man kann ja nicht sagen, dass sie nicht bemüht seien. Das Ergebnis ist: Sie sind nicht in der Lage gewesen, den Waffenstillstand zu erzwingen. Insofern muss man die Hoffnung auf ein Wunder verlagern. Denn so wie es jetzt aussieht, weitet sich die Katastrophe immer noch weiter aus.
Das Gespräch führte Franziska von Busse.