Navid Kermani: "Grundgesetz hat wirklichkeitsschaffende Macht"
Der Autor, Publizist und Orientalist Navid Kermani hat vor zehn Jahren zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes eine bewegende Rede vor dem Bundestag gehalten. Zum 75. Jahrestag spricht er bei NDR Kultur.
Als Kind iranischer Einwanderer und Schriftsteller hat Navid Kermani einen besonderen Zugang zum Grundgesetz. Vor zehn Jahren hat der Orientalist, Denker und Autor das Grundgesetz in seiner Rede vor dem Bundestag über seine literarische Qualität definiert.
Herr Kermani, was hat sie damals darauf gebracht?
Navid Kermani: Die Lektüre, ich habe es einfach gelesen. Zufällig hatte ich kurz zuvor die Ursprungsfassung in einer sehr schönen Ausgabe bekommen. Ich war einfach gebannt von den Worten, vor allem vom Ursprungstext. Der ist ja dann vielfach verarbeitet und verschlimmbessert worden - vor allem auch sprachlich. Mir ist vom ersten Satz an aufgefallen, dass die Menschen, die das Grundgesetz geschrieben haben, einfach ein wunderbares Sprachgefühl hatten. Dieses Sprachgefühl ist nicht nur schön, oder formal beeindruckend, sondern es ist auch inhaltlich, juristisch richtig, weil es genau die Mitte findet zwischen Offenheit und Präzision. Das ist genau das, was das deutsche Grundgesetz oder die Verfassung im Vergleich zu anderen Verfassungen auszeichnet.
Das würde ja auch erklären, dass man so ein Grundgesetz trotz der Präzision in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich versteht.
Kermani: Das muss so sein. Ein Grundgesetz hält hoffentlich lange. Natürlich ändern sich die Meinungen. Das ist ganz normal. Sie können sicher sein, dass alles, was wir heute denken, in 50 Jahren als vollkommen antiquiert und vielleicht sogar reaktionär gilt. Das ist nun mal so. Aber das Grundgesetz ist die höhere Vernunft, die über die Zeitmeinung hinausgeht, also die das Grundlegende festhält, auch wenn wir in 20 Jahren schon wieder anders denken. Deshalb bin ich auch eigentlich bei fast allen Änderungen immer sehr zurückhaltend. Ich sehe selten, dass es da wirklich einen Gewinn gibt.
Es ist erstaunlich: 1962 hat man erlaubt, dass Frauen ein Konto haben dürfen und der sogenannte Homosexuellenparagraf wurde 1969 abgeschafft. Da hat es die Bundesrepublik und das Grundgesetz schon lange gegeben. Wie kann man so etwas erklären?
Kermani: Das Grundgesetz ist etwas Normatives. Sehen sie, das Recht auf eine freie Wohnung - das hat es 1949 nun überhaupt nicht gegeben - das Grundgesetz ist also kein Gesetz in dem Sinne. Es beschreibt keine Wirklichkeit, wie sie ist, sondern wie sie sein soll. Das hat eine lange Entwicklung gebraucht und es braucht sie immer noch. Noch immer sind manche Werte nicht verwirklicht, aber das Grundgesetz ist sozusagen die Aufgabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Insofern ist das eigentlich ein normaler Vorgang. Ich finde es eher bemerkenswert, wie schnell Werte, die damals überhaupt nicht von der Mehrheit der Menschen geteilt wurden, zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Das weisen Umfragen nach. Beispielsweise war damals noch eine große Mehrheit für die Einführung Todesstrafe. Heute ist das anders und auch schon kurz nach der Einführung des Gesetzes war das nicht mehr so. Das gilt für Vieles: die Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise. Insofern hat das Grundgesetz, indem es Werte bestimmt, eine enorme wirklichkeitsschaffende Macht.
Sie haben vor zehn Jahren im Bundestag auch über die Änderung des Asylrechts Anfang der 90er-Jahre gesprochen. Jetzt sind wir wieder in einer ganz anderen Situation. Gerade hat die EU ihren Asylkompromiss beschlossen. Wie blicken Sie heute auf dieses Thema? Was würden Sie heute sagen?
Kermani: Ich bin natürlich sehr skeptisch, was die jetzigen Änderung betrifft, aber es gibt da ein Missverständnis. Ich habe damals über das Recht auf politisches Asyl gesprochen. Deutschland war damals sehr, sehr zurückhaltend, wenn nicht verschlossen, auch im Vergleich zu anderen Staaten. Dann gab es ein Jahr später die Öffnung der Grenze oder die "Nicht-Schließung" der Grenzen, um es genau zu sagen. Es kamen über eine Million Flüchtlinge innerhalb von wenigen Monaten. Das kann man gut oder schlecht finden, darüber kann man diskutieren. Aber das war eigentlich nicht der Punkt, über den ich damals gesprochen habe. Mein Punkt war der, dass politisch Verfolgte - also Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, für Gleichberechtigung, für Demokratie - eigentlich keine andere Möglichkeit haben, in Deutschland Asyl zu beantragen als mit dem Flugzeug über Deutschland abzuspringen. Man kann nur illegal einreisen. Man ist sozusagen per se illegal - fast immer- weil es keine Möglichkeit gibt, auf legalem Wege in Deutschland Asyl zu beantragen. Der Punkt hat sich bis jetzt nicht grundlegend geändert, auch wenn die Haltung sich seitdem sehr verändert hat. Damals sprachen wir über 10.000 syrische Flüchtlinge, die Deutschland aufnehmen wollte und da war es noch sehr stolz darauf. Ein Jahr später waren es eine Million. Die Haltung, die Willkommenskultur, auch die ganzen Konflikte, die entstanden sind - Kölner Silvesternacht - all das hat sich natürlich seitdem gewaltig geändert - im Gesetz selbst aber leider nicht. Die jüngsten Vorschläge und Änderung finde ich nicht alle pauschal schlecht, aber mit der Richtung kann ich natürlich überhaupt nicht einverstanden sein.
Man kann Sie in den nächsten Tagen bei zwei Veranstaltungen in Hamburg erleben. Eine davon ist eine theatralische Installation. Was hat es damit auf sich?
Kermani: Das ist das Herz des Thalia-Theaters. Seit zwölf, 13 Jahren machen wir das ungefähr einmal im Jahr, dass sich das gesamte Ensemble des Thalia Theaters und Gäste des Schauspielhauses an unterschiedlichen Orten mit Büchern von mir auseinandersetzen. Das hat sich selbst entwickelt und ist für mich und für viele Zuschauerinnen und Zuschauer eine wunderbare Sache. Die vierzehnte Auflage findet am Sonntag auf dem Ohlsdorfer Friedhof um 18 Uhr statt.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott