Nach Rücktritt der EKD-Chefin Kurschus: Aufarbeitung tut not!
Die Aufregung der vergangenen Tage hat viel Vertrauen gekostet. Nach dem Rücktritt der EKD-Chefin Annette Kurschus fordert Florian Breitmeier im Kommentar eine entschiedenere Haltung der Evangelischen Kirche im Fall von Missbrauchsvorwürfen.
Am Ende hatte Annette Kurschus keine Wahl. Der Druck war einfach zu groß: unter den Betroffenen sexualisierter Gewalt, in der Öffentlichkeit - und auch in der Kirche. Annette Kurschus hat schweren Herzens erkannt, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn sie an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland und Präses der Westfälischen Landeskirche bleibt.
Es verdient Respekt und Anerkennung, dass sie das Erscheinungsbild ihrer Kirche trotz aller persönlichen Wut nicht aus dem Blick verloren hat. Einen evangelischen Fall wie den des katholischen Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki zu verursachen, dessen Glaubwürdigkeit und öffentliches Ansehen längst in den Fluten des Rheins untergegangen sind, das wollte Annette Kurschus nicht.
EKD: Kein tragfähiges Krisenmanagement
Gleichwohl zeigte sie bei ihrer emotionalen Rücktrittserklärung in Bielefeld eine gewisse westfälische Eigensinnigkeit. Vor allem der mediale Druck von außen, ja, in der Öffentlichkeit geschürte Konflikte zwischen ihr und Betroffenen sexualisierter Gewalt hätten ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt. Annette Kurschus sprach von absurden und schädlichen Verschiebungen.
Bei aller verständlichen Enttäuschung übersieht sie dabei aber, dass es Betroffene waren, die den Weg in die Öffentlichkeit mithilfe der Presse suchten. Auch weil sie ganz offensichtlich das Gefühl hatten, dass ohne diesen Schritt in dem Fall zu wenig passiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelte. Was aber tat die Kirche? Was tat das einberufene Interventionsteam? Kurzum: Was taten diejenigen, die zumindest über die Ermittlungen in Siegen und wichtige Hintergründe deutlich vor der turbulenten Synodentagung in Ulm informiert waren?
Von einem tragfähigen Krisenmanagement kann in diesem dramatischen Fall keine Rede sein. Es gab und gibt beim Thema Missbrauch schwere Versäumnisse innerhalb der Evangelischen Kirche. So bedarf es deutlicher als bisher einer entschiedenen Haltung, es im Fall von Missbrauchsvorwürfen ganz genau wissen zu wollen, auch wenn es schmerzhaft ist. Eben das ist Aufarbeitung! Gäbe es in der Evangelischen Kirche schon unabhängige Aufarbeitungskommissionen, an die sich Betroffene wenden könnten - vielleicht wäre der Fall Siegen nie so eskaliert.
Verbindliche Standards sind überfällig
Nun tritt zunächst einmal kommissarisch die Hamburger und Lübecker Bischöfin Kirsten Fehrs an die Spitze der EKD. Der bodenständigen Protestantin stehen stürmische Wochen bevor: Der Siegener Verdachtsfall ist noch nicht abschließend geklärt. Wer weiß, was da noch aufgewirbelt wird. Mitte Dezember möchte die Evangelische Kirche dann endlich eine Vereinbarung mit der Unabhängigen Beauftragten des Bundes für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, unterzeichnen. Es soll darin um eben jene längst überfälligen verbindlichen Standards einer unabhängigen Aufarbeitung in den evangelischen Landeskirchen gehen.
Zudem: Ende Januar wird eine große unabhängige Missbrauchsstudie zu sexualisierter Gewalt veröffentlicht - mit wohl bitteren Wahrheiten, dargelegten Verbrechen, Verwundungen, Fehlern. Betroffene werden zu Recht Forderungen stellen, auch mit Blick auf Entschädigungszahlungen, die diesen Namen verdienen.
Kirsten Fehrs wird in ihrem neuen Amt sofort gefordert sein. Zuletzt dürfte sich die Stimmung in so manchem kirchlichen Leitungsgremium stark eingetrübt haben. Sexualisierte Gewalt, der Siegener Verdachtsfall und seine Hintergründe - in mehrfacher Hinsicht gilt für die Evangelische Kirche: Aufklärung und Aufarbeitung tun not!