Liebe oder Sex? Dating-Apps wissenschaftlich untersucht
60 Prozent der Deutschen sind oder waren schon einmal auf einer Dating-App angemeldet. Der Göttinger Politikwissenschaftler Martin Beckstein erforscht Dating-Apps und sieht zwischen den Nutzerinnen und Nutzern und den Apps einen möglichen Interessenskonflikt.
Auch wenn mehr als die Hälfte aller Deutschen über 16 schon auf einer Dating-App war - die Suche nach etwas Festem dauert: Im Schnitt müssen User mit 291 Menschen "matchen" bis sie eine Beziehung finden.
Martin Beckstein ist Politikwissenschaftler in Göttingen. Er forscht zu Dating-Apps - den Vorteilen und den Problemen: "Wir haben ein Foto, Angaben zum Alter, zu Personalien, zu Hobbys und so weiter. Aber wir haben extreme Authentizitätszweifel an diesen Informationen. Das heißt, wir können eigentlich bei keiner Information sicher sein, dass sie stimmt. Die Fotos sind in der Regel aufgehübscht. Wir können nicht einmal sicher sein, dass tatsächlich eine Person dahinter ist und nicht nur eine KI. Das ist das Transparenz-Paradoxon, was letztendlich dazu führt, dass die Dating-Apps eigentlich einen großen Maskenball organisieren."
Interessenskonflikt zwischen den Nutzenden und den Apps
Nicht unbedingt ein guter Start für ein erstes Date. Ob feste Beziehungen überhaupt im Interesse der App-Betreiber sind - daran hat Beckstein Zweifel: "Das liegt daran, dass die Plattformen Geld damit verdienen, dass Menschen sie nutzen. Wenn jemand schnell jemanden fürs Leben findet, dann gibt es keine Möglichkeit der Monetarisierung mehr, das heißt, hier entsteht ein potenzieller Interessenskonflikt."
Wer länger auf den Apps ist, sieht zum Beispiel mehr Werbung oder zahlt Gebühren, um die Apps zu nutzen. So verdienen viele Apps ihr Geld. Die Match Group, zu der auch Tinder gehört, hat einen Wert von circa acht Milliarden Euro.
Graphic Novel "Oh Cupid" über Dating-App-Erfahrungen
Die Hamburger Autorin Helena Baumeister war auch auf einer App der Match Group angemeldet. "Es ist natürlich verheißungsvoll, sich über eine App mit jemand ganz Fremden zu verabreden", sagt sie. In ihrer Graphic Novel "Oh Cupid" erzählt sie davon: "Er hat mich gefragt und ich habe gesagt, ich suche nach Leuten außerhalb meiner Bubble und unverbindlichen Sex, ohne genau zu wissen, was ich damit eigentlich sagen will. Es war einfach so. Es klang irgendwie souverän. Er hat gesagt, er sucht vor allem Letzteres."
Erstes Date: Radfahren. Noch kein Sex. "Insbesondere zum zweiten Date - wo ich schon wusste, ich habe Interesse an ihm, ich finde ihn witzig, eine interessante Person - bin ich gefahren mit einer ganz schüchternen Hoffnung, dass das mehr ist als das, was wir uns vorausgesagt haben, also unverbindlicher Sex", erzählt Baumeister.
Könnten nicht-kommerzielle Akteure eine Marktlücke schließen?
Unverbindliche Dates funktionieren oft gut. Aber etwas Langfristiges? Da meinten in einer Umfrage nur 42% der Nutzer: Dating-Apps sind hilfreich, um einen Partner zu finden. Für die überlegt Martin Beckstein, welche Alternativen es zu wirtschaftlich orientierten Apps geben könnte. "Da wäre natürlich die Möglichkeit, dass sich nicht-kommerzielle Akteure - ob das jetzt Wohltätigkeitsorganisationen sind oder Staaten - in diesem partiellen Marktversagen engagieren, um eine bestimmte Nutzergruppe zu unterstützen", sagt Beckstein.
Wie so eine App konkret aussehen könnte, müsste noch entwickelt werden. Sie wäre im Interesse der Gesellschaft, mein Beckstein: "Dadurch kann Einsamkeit effektiv bekämpft werden. Einsamkeit hat nichts damit zu tun, dass man keine Menschen um sich hat, sondern keine Menschen, zu denen man eine tiefe Verbindung aufgebaut hat. Dafür sind stabile Partnerschaften nötig."
Vorteile von Dating-Apps
Helena Baumeister hätte sich mehr vorstellen können - der Mann nicht. "Ich fühlte mich danach irgendwie komisch auf den Hosenboden gesetzt. Mit dieser Erfahrung war es für mich wie ein Autonomiegewinn, darüber zu zeichnen", erklärt Baumeister. Später findet sie auf der App ihren jetzigen Partner. Dating über Apps würde sie weiterempfehlen: "Man unternimmt interessante Dinge, man hat Vorfreude. Man geht aus, trifft Leute, mit denen man am Ende vielleicht eine FreundInnenschaft entwickeln kann. An sich finde ich es ein tolles Tool."
Die Vorteile sieht auch Beckstein, aber er glaubt, ein breiteres Angebot könnte mehr Menschen glücklich machen: "Es muss, denke ich, eine möglichst offene demokratische Debatte darüber geben, was man möchte und wie man möchte, dass der Staat Anreize setzt, sich beteiligt oder Unterstützungsangebote bereitstellt. Dafür, denke ich, kann man in einer Demokratie offen reden."