Julian Nida-Rümelin über Cancel Culture: Wir müssen viel aushalten
Der Begriff Cancel Culture löst hitzige Debatten aus. Julian Nida-Rümelin erklärt das Phänomen und die Gefahren, die davon ausgehen. Der Philosoph plädiert für Meinungsfreiheit - und zeigt ihre Grenzen.
Der Begriff "Cancel Culture" ist für viele Menschen ein Trigger-Punkt. Woran liegt das? Und was bedeutet Cancel Culture für unsere Gesellschaft? Diesen Fragen ist Julian Nida-Rümelin in seinem Buch "Cancel Culture - Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken" nachgegangen. Der Philosoph lehrte unter anderem an den Universitäten in Tübingen, Göttingen, Berlin und München, hielt außerdem Gastprofessuren in den USA, Italien und China. Bekannt ist der Autor zahlreicher Bücher zudem als ehemaliger Kulturstaatsminister unter Gerhard Schröder. Der Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin ist der Auffassung, dass unsere Gesellschaft unterschiedliche und auch unbequeme Meinungen anhören und aushalten muss - bis zu einer bestimmten Grenze. Wo diese Grenze verläuft, lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Herr Nida-Rümelin, was ist Cancel Culture?
Julian Nida-Rümelin: Wie der Name schon sagt: Das ist eine Kultur. Es geht nicht um die Verwechslung von Zensur. Allerdings gibt es einen Zusammenhang zwischen Cancel Culture und Zensur. Es ist eine kulturelle Praxis, die darauf hinausläuft, unliebsame Meinungen zu unterdrücken, zu marginalisieren, sie aus Diskursen herauszuhalten oder modern, Deplatforming, also sie von den Social-Media-Plattformen herunterzubekommen.
Eine Steigerungsform von Cancel Culture ist, dass man nicht nur bestimmte Meinungen unterdrückt, marginalisiert und so weiter, sondern dass man Personen, die diese Meinungen vertreten, als Person heraushält aus den Diskursen, zum Schweigen bringen, diffamiert. Die letzte Steigerungsformen, die natürlich wieder Unterstufen hat, ist die, dass man die Person sozial, beruflich oder anderweitig marginalisiert, eventuell beruflich vernichtet, ihre Berufsmöglichkeiten zerstört oder in Diktaturen auch physisch vernichtet.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Stärke der Aufklärung zugleich ihre Schwäche ist. Es geht um das Vertrauen in menschliche Vernunftfähigkeit. Was muss eine Gesellschaft an unerwünschten Meinungen, Widersprüchen, Konflikten aushalten? Wo liegt die Grenze von Meinungsfreiheit?
Julian Nida-Rümelin: Wir müssen sehr, sehr viel aushalten, damit die Demokratie Bestand hat. Es ist ein Irrtum mancher Milieus, die sagen, wir werden jetzt einzelne Positionen vielleicht mit unserer kommunikativen Macht oder auch Geschicklichkeit aus den Plattformen rausbringen. Das ist meistens eine dramatische Fehleinschätzung. Bestimmte Milieus, die meinen, sie könnten es machen, wundern sich dann, dass das am Ende genau umgedreht ausgeht. Das ist ein uraltes Muster der Politik. Die Faschisten und die Nationalsozialisten haben linke Politikformen übernommen, sich angeeignet und haben sie brutalisiert und angewandt und waren dann damit sehr erfolgreich.
Wenn man sagt, da macht jemand Äußerungen, die einfach heutzutage nicht mehr gemacht werden dürfen. Nehmen wir mal ein gerade relevantes Beispiel, welche Rolle das biologische Geschlecht spielt. Deswegen dürfen wir Alice Schwarzer, eine wichtige Ikone der deutschen Frauenbewegung canceln, indem wir dafür sorgen, dass die nicht auftreten kann und das Buch, was sie zu ihrem 80. Geburtstag publiziert hat, nicht vorträgt, weil sie vermeintlich nicht nur transgenderfeindlich, sondern damit auch frauenfeindlich sei.
Dann klatschen viele Beifall und sagen, das geschieht diese Dame Recht. Kurz darauf kann man zum Beispiel in Florida beobachten, wie ein rechtslastiger Republikaner, nämlich Gouverneur Ron DeSantis, die Cancel Culture-Praxis der republikanischen Parteianhänger aufstachelt, die dann dafür sorgen, dass Transgender-Personen in Schulen nicht mehr auftreten, die alle Schulbibliotheken von Literatur, in denen es irgendwie um Sexualität geht, rausschmeißen und so weiter. Wir sind geradewegs in Richtung McCarthy-Ära. Das heißt also eine brutale Cancel Culture von rechts auch noch mit staatlicher Unterstützung. DeSantis ist stolz darauf, dass Florida eine woke-freie Zone geworden sei. Ich hoffe, er irrt sich.
Sie sagen, dass der Begriff Cancel Culture auch genutzt wird, um den Diskurs nicht führen zu müssen und zum Beispiel, um nicht eingehen zu müssen auf Kritik. Wie können wir mit dem Problem umgehen?
Julian Nida-Rümelin: Wir haben eine äußere Grenze, innerhalb derer sich Meinungsfreiheit halten muss. Personen haben ein Recht auf Meinungsfreiheit nur in bestimmten Grenzen, und diese Grenzen muss man immer wieder neu aushandeln und abstecken. Man kann grob sagen, die sind dort gesteckt, wo die zentralen Elemente der demokratischen Ordnung in Frage gestellt werden. Dabei geht es nicht nur um strafrechtliche Dinge. Das ist die sozusagen die libertäre Minimalposition. Ich habe da eine stärkere Vorstellung von Grenzen.
Ich diskutiere gerne auf Podien mit allen möglichen Menschen unterschiedlichster Auffassung, auch mit solchen, die eine diametral andere Auffassung haben wie ich. Mit Neonazis diskutiere ich nicht. Das heißt nicht, dass ich nicht bereit wäre, vielleicht bilateral ein Gespräch zu führen. Dann ist es aber ein therapeutisches Gespräch. Es ist nicht der Versuch, herauszufinden, was richtig ist und was falsch ist, weil dafür die Voraussetzungen fehlen.
Es gibt von Donald Davidson - einem bedeutender Sprachphilosoph, den man hierzulande kaum kennt, aber nach Wittgenstein vielleicht der zweitbedeutendste Sprachphilosoph der letzten Jahrzehnte - die These, wenn wir überhaupt über irgendetwas streiten wollen, dann müssen wir über fast alles Übrige einer Meinung sein. Und das, worüber wir einer Meinung sind, muss ganz überwiegend wahr sein. Das klingt extrem radikal und überzogen. Bei genauerer Betrachtung stimmt das nicht. Denn unsere Sprachpraxis beruht darauf, dass wir ein gemeinsames Realitätsverständnis haben, gemeinsame Regeln der Kommunikation.
Wenn diese Prinzipien nicht in der Regel unser kommunikatives Verhalten leiten, dann kommt die Bedeutung der Ausdrücke ins Rutschen. Dann wissen wir nicht mehr, wovon die Rede ist. Dann können wir auch nicht streiten, weil wir gar nicht mehr wissen, wovon die Rede ist. Wir haben eine demokratische Öffentlichkeit, innerhalb der sehr weit divergierende Auffassungen möglich sind. Das müssen wir aushalten können. Aber es gibt auch dort Grenzen, und zwar dort, wo die elementaren Grundprinzipien des Diskurses selbst in Frage gestellt werden. Es geht um den universalistischen Gehalt von Artikel eins, Absatz eins des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Universalistisch heißt, alle Menschen haben die gleiche Würde, unabhängig von Religion, Ethnie und so weiter. Wer das verletzt, fällt raus aus dem demokratischen Diskurs.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.