Haben Skandale heute noch eine Wirkung? Pro und Contra
Haben Skandale heute noch eine Wirkung? Jürgen Deppe ärgert sich über die "Köpfe-rollen-Mentalität" in Sozialen Medien. Alexander Solloch meint dagegen: Es rollen viel zu selten Köpfe.
Jürgen Deppe: "Täglich ein Skandal, täglich rollende Köpfe"
Früher, in der guten alten Zeit, war ein Skandal noch ein reinigendes Gewitter, das nach monatelangen Recherchen Missstände und ihre Verursacher davonspülte. Mittlerweile sind Skandale zum giftigen Dauernieselregen verkommen. Weil jede Missstimmung - egal wie narzisstisch sie ist - im Echoraum Internet enormen Widerhall findet, wird die Missstimmung stimmgewaltig zum Missstand aufgebauscht. Der Sturm im Wasserglas eskaliert zum Shitstorm. Eine individuell als diskriminierend empfundene Gendertitulierung, Hautfarbennennung oder Handicapbezeichnung reicht, um den skandaltypischen Ruf nach Konsequenzen laut werden zu lassen: Wir wollen Köpfe rollen sehen!
Wenn Musiker Rastalocken tragen, obwohl sie keine Rastafarians sind. Skandal! Weg damit! Wenn in älteren Büchern bis heute Wörter wie "Neger" oder "Krüppel" stehen: Skandal! Weg damit! Wenn eine Kabarettistin mit antisemitischen Stereotypen Satire betreibt. Skandal! Weg damit! Als hätten wir nichts Wichtigeres zu tun. Traditionelle Medien wirken da meist nur noch als Verstärker der vermeintlich Sozialen Medien. Was bei X, Insta oder TikTok trendet, wird zum Maßstab. Da heißt es fast täglich: "Wir wollen Köpfe rollen sehen!". Der Grat der skandalisierenden Empörung hat ein unerträgliches Maß erreicht. Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben und eine Handvoll besserwisserischer Menschen, die sich zur verantwortungsvollen Mehrheit stilisiert, brüllt: "Wir wollen Köpfe rollen sehen!".
Was wir heutzutage erleben, ist eine schlimme Inflationierung des Skandalisierens. Der Empörungskult erinnert eher an römische Kampfspiele: Man treibt Delinquenten in die Arena und will Blut fließen sehen. Ums Beheben von Missständen geht es schon lange nicht mehr. Es geht ums Rechthaben und den Triumph des Cancelns. Parole: "Wir wollen Köpfe rollen sehen!".
Alexander Solloch: "Es gibt keine skandalisierbare Öffentlichkeit mehr"
Die Welt ist skandalös wie selten, aber weil sich sowieso alle immer irgendwie aufregen, regt sich keiner mehr richtig auf. Unser unermesslicher Reichtum an Skandalen skandalisiert niemanden mehr. Morgen gibt’s ja schon wieder die nächste Empörung! Es gab eine Zeit, da musste man als Minister den Hut nehmen, wenn man auf falschem Briefpapier Korrespondenz betrieben hatte; oder gar auch dann, wenn man selbst gar nichts falsch gemacht hatte, aber auf untergeordneten Dienstebenen skandalöse Fehler begangen worden waren. Man buchstabierte das damals: "V-e-r-a-n-t-w-o-r-t-u-n-g".
Und heute? Die Skandale werden immer größer, die Folgen immer geringfügiger. Es ist ein Skandal, dass der bayerische Wirtschaftsminister alle, die ein paar sehr angebrachte Fragen haben zu seiner demokratischen Verlässlichkeit, auf allerläppischste Weise zum Narren hält. Es ist ein Skandal, dass der Bundeskanzler sich da, wo es für ihn unangenehm wird, plump auf Erinnerungslücken beruft und erwartet, dass ihm die irgendjemand abnimmt. Es ist ein Skandal, dass der bayerische Ministerpräsident, den niemand nach seiner Meinung gefragt hat (wie käme man auch dazu?), wider besseres Wissen (aber immerhin pro Kulturkampf) twitternd einen Shitstorm gegen eine Hamburger Kita am Laufen hält. Es ist ein Skandal, dass ein Bundesverkehrsminister 250 Millionen Euro an Steuergeldern verbrennt und sich keiner Verantwortung bewusst ist.
Jeder einzelne dieser Skandale hätte einem älteren, inzwischen historisch gewordenen Verständnis nach persönliche Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Aber die wirksame Ahndung skandalösen Verhaltens ist mittlerweile nahezu unmöglich gemacht durch Zynismus und Resignation, die bereitwillige Aufnahme des rechten Populismus in die Mitte der Gesellschaft und die atomisierte Aufmerksamkeit sowie allgemeine Ermattung der Öffentlichkeit. Demokratie hieß früher mal, dass alle aufeinander aufpassen und gemeinsam die Mächtigen überwachen. Heute heißt sie nur noch, dass alle undifferenziert schlechte Laune haben und nichts mehr von der res publica wissen wollen. Nur: Besonders lange wird das dann wohl nicht mehr Demokratie heißen.
Eine winzige Ausnahme gibt es, sie betrifft aber lediglich schlappe fünfzig Prozent der Bevölkerung. Wehe, eine Frau lässt sich bei irgendetwas nicht hundertprozentig Gutem erwischen, etwa beim Verschicken einer verunglückten Silvesterbotschaft oder beim Urlaubmachen in einer urlaubsungeeigneten Situation - dann atmen aber 80 Millionen Deutsche so vehement schnapp, dass als lebenserhaltende Sofortmaßnahme nur noch der Rücktritt bleibt. Und der Herr Kollege im Nachbarbüro? Findet noch ein lustiges Naziflugblatt in einem alten Schulranzen, Gott, was war man früher rebellisch; kommt auf Wiedervorlage, Wähler mögen sowas. Dass es zwar noch reichlich Skandale gibt, aber keine skandalisierbare Öffentlichkeit mehr - das ist ein Skandal!
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