Gülay Ulaş: "Nur Einzelfälle schaffen es, von der Straße zu kommen"
Gülay Ulaş, Mitbegründerin des Duschbusses GoBanyo, spricht im Podcast "Deutschland3000" über Housing First, ehrenamtliches Engagement und warum die Politik aufhören muss, bei Obdachlosigkeit wegzuschauen.
Gülay Ulaş hat neben dem Duschbus für Obdachlose und einem Verein, der viel Aufklärungsarbeit zum Thema Obdachlosigkeit macht, das Sonnenschein Café in Hamburg ins Leben gerufen: Dort können Menschen, die auf der Straße leben oder in finanzieller Not sind, sich zurückziehen, einen Kaffee trinken, sich aufwärmen oder gemeinsam Spiele spielen. Mit Alli Neumann, die Eva Schulz in einer Folge bei "Deutschland 3000" vertritt, spricht sie über Obdachlosigkeit, bedingungsloses Wohnen, Ehrenamt und Rassismus in der Obdachlosenhilfe. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek.
Housing First ist eine politische Bewegung, die sich für bedingungsloses Wohnen einsetzt. Was bedeutet das?
Gülay Ulaş: Housing First sagt, Menschen müssen zuerst ihre eigenen vier Wände haben. Erst dann können wir ihnen helfen, wenn sie diese Hilfe wollen. Sie müssen erst einmal zur Ruhe kommen. Ohne deine eigenen vier Wände kannst du nicht heilen - und ohne Heilung kannst du nicht an nächste Schritte denken. Finnland ist ein gutes Beispiel: Da brauchen die Menschen im Schnitt ein halbes Jahr, um wieder selber für sich sorgen zu können.
Alle Menschen auf der Straße, die ich kenne, verbindet nur eines: dass sie in einer bestimmten Krise in einer Phase ihres Lebens komplett alleine waren. Wenn das von der Regierung übernommen wird, einmal kurz da zu sein, bevor du deine Wohnung verlierst, ist eigentlich allen geholfen. Es ist auch viel günstiger.
Warum ist es für Obdachlose so schwierig, von der Straße wegzukommen?
Ulaş: Unser Obdachlosenhilfesystem greift erst, wenn ein Mensch auf der Straße ist - wenn überhaupt. Dieser Mensch muss sich selber aktiv darum kümmern, von der Straße wegzukommen. Es kommen Krankheiten dazu, egal ob psychische oder physische und es kommt das Überleben hinzu. Du kannst gar nicht mehr an morgen denken, du musst jeden Tag bei Null anfangen. Diese Menschen werden in die Verantwortung genommen, trotz ihrer Notlage. Sie müssen sich um alles selber kümmern: Behördengänge und Termine einhalten, ohne eine Uhr zu haben.
Dann gibt es die absurde Situation, dass du keinen Job ohne Ausweis, keine Wohnung ohne Ausweis bekommst. Aber was, wenn du keinen Ausweis hast?
Ulaş: Genau, für einen festen Wohnsitz brauchst du einen Arbeitsvertrag. Ich kenne Menschen, die auf der Straße leben und arbeiten, aber ich weiß nicht, woher sie diese Energie nehmen. Es ist total krass, wieder auf die Füße zu kommen. Du musst eine Art Leiter hoch klettern - von der Straße zurück in eine Wohnung -, damit dir geholfen wird. Housing First sagt, diese Leiter ist total absurd. Kaum jemand schafft es, die Leiter hoch zu gehen. Menschen, von denen wir hören - wie mein Mitgründer Dominik -, sind Einzelfälle. Die hatten verdammt viel Glück. Sie sind charmant, eloquent, sympathisch und schaffen das vielleicht, von der Straße zu kommen. Aber die allermeisten schaffen diese Leiter nicht.
Das ganze Gespräch können Sie in der ARD Audiothek hören. Es führte Alli Neumann.