Oliver Nachtwey © Suhrkamp Verlag
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AUDIO: Freiheit in der Krise:– Oliver Nachtwey über das Gekränktsein (25 Min)

Freiheit in der Krise: Oliver Nachtwey über das Gekränktsein

Stand: 28.07.2024 06:00 Uhr

Im Gespräch erläutert der Sozialforscher Oliver Nachtwey die Ergebnisse seiner Interviewreihe, die er während der Pandemie mit sogenannten Querdenkern durchgeführt hat, um deren Motivation zu erforschen.

Mit seinen Büchern "Gekränkte Freiheit" und "Die Abstiegsgesellschaft" hat sich der Basler Professor für Sozialstrukturanalyse zu einem der führenden Analysten der postmodernen Gesellschaft entwickelt. Sein zentrales Thema ist die Ambivalenz der Freiheit in der modernen Gesellschaft: Einerseits wird Freiheit als höchster Wert und Ziel propagiert, andererseits führt der exzessive Freiheitsanspruch oft zu Konflikten und einer Erosion gemeinschaftlicher Werte und Normen.

Herr Nachtwey, Gekränktsein scheint so etwas wie eine neue Volkskrankheit zu sein. Wie kommt es dazu?

Oliver Nachtwey: Kränkung gab es schon immer. Kränkung ist erst einmal etwas, das man sehr persönlich nimmt. Und es fällt einem schwer, das zu verzeihen, wenn da eine gewisse Herabsetzung drin ist. Was wir beobachten, sind soziale Kränkungen, politische Handlungen, politische Debatten, die eigentlich außerhalb des Individuums stehen, die man dann aber sehr, sehr persönlich nimmt. Seien es Debatten um das Essen, um das Gendern, um den Klimawandel - all die sozialen Phänomene nehmen die Leute deutlich persönlicher als in den vergangenen Jahren.

Nehmen wir mal das Beispiel "Gendern". Warum stört mich das so, wenn manche Leute das "innen" hinten mitsprechen oder das Gendersternchen draufschreiben? Warum kann ich mich darüber so wahnsinnig echauffieren?

Nachtwey: Das Gendern zeigt einen sozialen Wandel an, dass sich viele Menschen wünschen, dass man anders spricht, um auch andere soziale Verhältnisse anzuerkennen, um dort auch mehr Gerechtigkeit drin zu haben. Aber es gibt auch eine andere Dimension davon. Nämlich: Einige Leute, die das praktizieren, tun das in einer gewissen rügenden Art und Weise. Dass man Menschen daran erinnert, dass sie nicht oder falsch gegendert haben. Und dadurch hat sich so etwas etabliert, dass man beim Gendern, beim Genderstern, schon direkt daran erinnert wird, dass darin eine neue Machtkonstellation, eine neue Gesellschaftskonstellation abgebildet, etwas Vergangenes durch etwas Neues ersetzt, einem etwas von Außen - und hier kommt die Kränkung wieder - individuell anerzogen und aufgedrückt werden soll. Das treibt viele Menschen um. Es ist eine neue Empfindsamkeit da. Und diese Empfindsamkeit ist eher bei den konservativen Gruppierungen, dass man Angst vor einer Bevormundung hat und auch sehr, sehr viele Bevormundungen sieht. Gleichzeitig sich aber auch in sein Auto setzt und sich anschnallen muss, weil es sonst ziemlich nervig piept.

Sie haben während der Corona-Zeit die "Querdenker" untersucht, also die Menschen, die sich gegen den Staat und die damaligen Entscheidungen der Zeit gestellt haben. Was sind das für Menschen, die besonders "gekränkt" sind?

Nachtwey: Es sind interessanterweise nicht dieselben Menschen, die sich beim Veggie-Day oder beim Gendern gekränkt fühlen. Es sind viel häufiger hochindividualistische, zum Teil aus dem Alternativmilieu stammende Menschen, die sehr stark auf Autonomie, Selbstbestimmung, Souveränität, auf ein Erlebnishandeln kulturellen Genusses ausgerichtet sind. Im Grunde Individuen, wie sie sich die moderne Konsumgesellschaft wünscht. Sie sind konsumorientiert, sie wollen ihr Leben leben und halten wenig von staatlichem Zwang. Allerdings sind diese Menschen dann auch sehr stark gekränkt gewesen, weil bei ihnen etwas fehlte oder sich etwas verändert hat. Das sind Menschen, die sich keiner sozialen Gruppe mehr zugehörig fühlen, sei es der Arbeiterschaft, der Kirche oder irgendeiner anderen Gruppe. Sie sind eben sie, und sie sind Individuen. Gleichzeitig sind sie Individuen, die eine starke Staatsskepsis haben. Und da hat ihnen dann beispielsweise die Schließung der Fitness-Center und der Kulturinstitutionen sehr viel genommen und sie persönlich eingeschränkt. Für sie war es in diesem Moment aber schwierig zu sehen, dass es auch damit zu tun hat, die gesamte Gesellschaft zumindest in einen Modus zu bringen, damit die Krankenhäuser nicht überfüllt sind und man die Auswirkungen der Pandemie einigermaßen in den Griff bekommt.  

Sie beschreiben in Ihrem Buch "Gekränkte Freiheit" auch, wie sich der Anspruch des Individuums in unserer Gesellschaft verändert hat.

Nachtwey: In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es etwas Besonderes: Der soziale Aufstieg war sehr stark auf die Ähnlichkeit ausgerichtet. Man wollte gerne wie die anderen in den Urlaub fahren, wie die anderen einen VW Käfer haben, wenn es möglich war, sich ein Haus bauen. Das war immer darauf ausgelegt, wie die anderen zu sein. In den 1970er -und 1980er-Jahren hat es sich dahingehend verändert, auch als Folge der antiautoritären Revolte der 68er, dass man nicht mehr ähnlich sein wollte, nicht mehr ähnlich aufsteigen wollte. Sondern man wollte anders sein, man wollte individualisiert sein. Die Abkehr von der Industriegesellschaft und die Hinwendung zu einer autonomen, selbstbestimmten Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der man ganz individuell authentisch sein konnte.

Diese Werte von Selbstverwirklichung, von Selbstbestimmung, das sind die modernen Werte. Die sind nicht nur etwas, an denen man selbst arbeitet, sondern die man auch von der Gesellschaft erwartet, dass sie ihnen zur Verfügung gestellt werden, dass sie sie permanent realisieren kann. Wir nennen das "Abhängigkeitsvergessenheit". Dass sie nur noch wenig mit ihrem Klassenhintergrund, ihrer Vergangenheit zu tun haben, dass sie selbst gar nicht mehr realisieren, wie stark sie nicht nur von ihrer sozialen Herkunft, sondern auch von ihrer sozialen Umwelt, dem Bildungssystem, dem Verkehrswesen, aber auch vor allem dem Gesundheitswesen abhängig sind. Diese Form von Anspruch auf Selbstverwirklichung, einer im Grunde Hyperindividualisierung, geht sehr oft zusammen mit dieser Abhängigkeitsvergessenheit.

Das komplette Interview können Sie oben auf dieser Seite nachhören.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 28.07.2024 | 13:00 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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