Lars Jessen © picture alliance /ABB

Europawahl: Wie kann Kultur Wahlmuffel motivieren?

Stand: 07.06.2024 14:29 Uhr

Filmemacher Lars Jessen nimmt an der Initiative "Go Vote - Unsere Stimmen sind laut" teil. Im Interview spricht er darüber, wie man Jugendliche ins Wahllokal bekommt, und warum die Europawahl für ihn besonders wichtig ist.

Wer die Demokratie verteidigen will, muss sie sichtbar feiern - das ist das Konzept der Initiative "Go Vote - Unsere Stimmen sind laut" aus Hamburg vor der Europawahl am Sonntag. Museen, Konzerthäuser, Clubs und Verbände haben sich bei der Initiative "Go Vote - Unsere Stimmen sind laut" zusammengeschlossen, um in der Woche vor der Wahl mit Events und Konzerten auf die Wahl aufmerksam zu machen und damit vor allem auch die erstmals wählenden 16- und 17-Jährigen an die Wahlurne zu bringen.

Herr Jessen, Sie haben selbst drei Kinder. Wie bekommt man Jugendliche ins Wahllokal?

Lars Jessen: Indem man ihnen klarmacht, dass Wählen nicht sofortige Veränderung bedeutet, aber Wählen bedeutet, dass man in vier, fünf Jahren nochmal wählen darf. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, dann geht uns dieses Recht verloren.

VIDEO: "Unsere Stimmen sind laut": Demokratie-Konzert in der Elphi (3 Min)

"Kunst zum Mitmachen" lese ich im Programm von "Go Vote". Auch Jazz und Chormusik stehen auf dem Programm. Wie kann Kultur zur Aktivierung von Wahlmuffeln beitragen?

Jessen: Kultur hat vor allen Dingen die Aufgabe, Geschichten zu erzählen von einer Zeit, die wir uns manchmal gar nicht so richtig vorstellen können. Das ist unsere Aufgabe, uns ausdenken zu können, wo man eigentlich hin will. Es gibt ein schönes Zitat von Bell Hooks: "What we cannot imagine cannot come into being" - "Was wir uns nicht vorstellen können, kann auch nicht Realität werden." Insofern ist es unsere Aufgabe, Alternativen zum Status quo aufzuzeigen, der sich ja für nichts rechtfertigen muss.

Warum haben Sie den Eindruck, dass man Menschen zum Wählen motivieren muss? Es geht um Einiges, und wir erleben es doch durchaus mit vielen Demonstrationen, dass sich junge und alte Menschen politisch engagieren.

Jessen: Demokratie ist halt kompliziert, und Wählen ist nur ein Mal möglich in vier, fünf Jahren. Insofern wirkt das immer sehr abstrakt, und gleichzeitig sieht man aber doch, dass man durch seine Stimme Parteien wählen kann, deren Überzeugungen man teilt - vielleicht nicht immer hundertprozentig, aber es hat tatsächlich einen Einfluss. Der wirkt aber nicht direkt, weil die Wirklichkeit so kompliziert ist. Insofern braucht es sicherlich mehr demokratische Partizipationsmöglichkeiten als das Wählen alle paar Jahre. Aber das ist nun mal momentan das Beste, was wir haben. Darauf immer wieder aufmerksam zu machen, dass das so ist und dass es in anderen Gesellschaften überhaupt nicht möglich ist, ist wichtig, weil wir uns viele Dinge so gewöhnt haben: europäische Einheit, keine Pässe an den Grenzen zeigen - das ist für Leute, die 16 sind, gefühlte Normalität. Und für uns etwas älteren eben nicht. Wir sollten uns gegenseitig immer wieder daran erinnern, was das für ein besonderes Privileg ist in der Zeit, in der wir hier leben dürfen.

Welche Rolle können Menschen aus der Kulturwelt in der politischen Debatte überhaupt spielen?

Jessen: Ich glaube, wir können anders formulieren als Politiker, Leute aus der Wirtschaft. Wir können vielleicht mit Humor vorgehen, wo Angst geschürt wird. Wir können eine andere Aufbruchsstimmung erzeugen mit dem, was wir können. Das kann ein Song sein, das kann eine erzählte Geschichte in einer Kneipe sein, das kann ein Film sein. Wir Kulturschaffenden müssen uns auch stärker unserer eigenen Verantwortung klarmachen. Weil wenn wir so etwas können, dann sollten wir es auch anwenden - gerade in Zeiten wie diesen.

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Für viele ist die Europawahl ein bisschen abstrakter als eine Wahl, die direkt vor ihrer Haustüre stattfindet, obwohl sie das natürlich tut, weil man ein noch kleineres Sandkorn ist, als man es sowieso ist. Warum ist für Sie diese Wahl besonders wichtig?

Jessen: Wir dürfen das nicht zu klein reden. Deutschland stellt mit Abstand die meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament; ich glaube, es sind 96. Das Sandkorn ist also ein bisschen größer als das von kleineren Ländern in der EU. In Zeiten von Klimakrise und Jahrhundertfluten haben wir auch viele Lösungen auf EU-Ebene in den letzten fünf Jahren auf den Weg gebracht. Wenn wir diesen Weg entschlossen weitergehen, haben wir tatsächlich eine Chance, auch die schwerwiegendsten Folgen der Klimakrise zumindest eindämmen zu können. Um diesen Rollback zu verhindern, sind vor allen Dingen starke, progressive Kräfte im Europäischen Parlament nötig. Insofern zählt da wirklich jede Stimme, und gleichzeitig verwässert jede Stimme für eine demokratische Partei die Ergebnisse der Rechtsradikalen.

Was kann man bei "Go Vote" bis zur Wahl am Sonntag noch alles erleben?

Jessen: Einfach mal ins Internet gucken, was alles geboten ist, einfach auf die Straße gehen, die Augen aufmachen. Ich glaube, die Stadt vibriert am Wochenende.

Das Interview führte Eva Schramm.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 07.06.2024 | 17:15 Uhr

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